Die Phantome des Hutmachers. Georges Simenon

Die Phantome des Hutmachers - Georges Simenon


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mit einem Aperitif, höchstens zweien. Er war Protestant. Er hatte vier oder fünf Kinder und hätte noch viel mehr gehabt, wenn die Gemahlin nicht jedes zweite Mal eine Fehlgeburt hingelegt hätte. Inzwischen zog man ihn damit auf. Er wurde gefragt:

      »Deine Frau?«

      »Im Krankenhaus.«

      »Baby?«

      »Fehlgeburt.«

      Auch er hatte Geld, das er von den Eltern geerbt und das ihm ermöglicht hatte, sich eine Versicherungsvertretung zuzulegen. Er kümmerte sich nicht viel darum. Er hatte ja gute Untervertreter. Mitunter kam einer von ihnen in einer dringenden Sache zu ihm ins Café. Nachdem er den Nachmittag mit Bridgespielen verbracht hatte, aß er hastig zu Abend, bloß um dann bei sich oder Freunden weiter Bridge zu spielen.

      Im Übrigen war er der Bruder von Madame Geoffroy-Lambert aus der Rue Réaumur, der vierten Erwürgten. Monsieur Labbé war zu ihrem Begräbnis gegangen:

      »Mein Beileid, Julien.«

      Zu sämtlichen Begräbnissen war er gegangen, schließlich hatte er sie alle gekannt, zumindest durch Mathilde.

      Der kleine Journalist war nicht zu sehen. Wahrscheinlich war er draußen mit seinen Nachforschungen beschäftigt. Zwei-, dreimal warf Monsieur Labbé einen Blick hinüber zu dem Tisch, an dem Jeantet sonst saß.

      »Wir haben einen neuen Brief bekommen«, meinte Caillé, der Drucker und Besitzer des Echo des Charentes, während er auf seine Karten blickte.

      »So langsam übertreibt er’s«, murmelte Julien Lambert und bot zwei Treff.

      Und indem er sich zu Chantreau umdrehte, der die Partien mitverfolgte:

      »Du meinst, er ist ein Durchgeknallter, Paul?«

      Der Arzt zuckte mit den Achseln. Momentan interessierte ihn das nicht. Er hatte bloß Angst vor den Krallen, die seine Flanken bearbeiteten.

      »Auf jeden Fall wird er erst aufhören, wenn man ihn hat«, grummelte er.

      »Jack the Würgegerippe wurde nie gefasst, und trotzdem hat er aufgehört zu morden.«

      Das freute Monsieur Labbé, der daran nie gedacht hatte.

      »Wie viele hat er denn umgebracht?«, fragte er. »Drei Karo.«

      »Passe.«

      »Drei Pik«, übertrumpfte Lambert.

      »Vier Herz.«

      Es bestand Aussicht auf ein Klein-Schlemm, weshalb für einen Moment Schweigen eintrat, unterbrochen von Ansagen bis sechs Karo.

      »Kontra!«

      »Ich weiß nicht, wie viele er umgebracht hat, aber der Schrecken, in London und Umgebung, dauerte mehrere Monate lang. Die Armee wurde zu Hilfe gerufen. Büros und Fabriken mussten schließen, weil sich Angestellte und Arbeiterinnen nicht mehr auf die Straße trauten.«

      »Ich würde gern wissen, wie viele Frauen jetzt gerade unterwegs sind auf den Straßen.«

      Der kleine Schneider zitterte und trank das dritte Glas auf einen Zug leer. Aus Angst, dem Blick des Hutmachers zu begegnen, blickte er nicht mehr hinüber zu den Spielern, sondern fixierte düster den schmutzigen Fußboden.

      »Viermal Trumpf. Ich mache den Pik-Impass auf den König, und der Rest meiner Hand ist hoch.«

      Zu wissen, wie Kachoudas war, wenn er getrunken hatte, wäre interessant gewesen. Monsieur Labbé hatte ihn nie betrunken gesehen. Der Doktor zum Beispiel, der schon morgens anfing, sich volllaufen zu lassen, der nach jeder Untersuchung trank und den ganzen Tag lang nicht aufhörte damit, war zuerst von einem nur leicht mit Ironie durchsetzten Wohlwollen. Seine letzten Patienten am Vormittag, alle nannte er sie:

      »Mein Kleiner.«

      Oder:

      »Mein armer Alter.«

      Oder:

      »Meine kleine Dame.«

      Und anstatt ihnen ein Rezept auszustellen, holte er aus seinem Wandschrank ein Medikament hervor, das er ihnen in die Hand drückte, gratis.

      Zu Beginn des Nachmittags sah man ihn als Olympier, Gesicht qualmverhüllt, Gestik verlangsamt, Blick verhangen, Äußerung karg. Dann wurde er langsam sarkastisch, sogar gegenüber den besten Freunden.

      Die, die ihn abends gegen zehn trafen, wenn er nach Haus ging, nachdem er Rotwein getrunken hatte in den kleinen Bistros, behaupteten, er habe Tränen in den Augen gehabt und sie am Arm festgehalten.

      »Ein Rohrkrepierer, mein Alter. Ein altes Aas von einem Versager, das ist es, was ich bin! Gib zu, dass ich dich anekle, dass ich euch alle anekle!«

      Was den Wirt anging, der berufshalber gezwungen war, den ganzen Tag lang mit seinen Gästen ein Gläschen zu heben: Oscar quollen die Lider auf, sein Gang wurde würdevoll und zögerlich; als hätte er einen Knoten in der Zunge, vertat er sich gegen Abend mit den Silben, sodass man nicht immer verstand, was er von sich gab.

      Jedenfalls wurde der kleine Schneider unruhig. Er hielt es nicht länger auf seinem Platz aus, bewegte sich, als hätte er einen Tick oder wollte Fliegen verjagen, die es auf ihn abgesehen hatten.

      Monsieur Labbé hatte den nicht unangenehmen Eindruck, Kachoudas an Fäden zu halten, ihm zugewandt zu flüstern:

      »Ganz ruhig, Kleiner.«

      Er wusste genau, dass Kommissar Pigeac da war, hinter ihm, am Tisch der Vierzig- bis Fünfzigjährigen. Er hatte ihn hereinkommen sehen, im grauen Mantel, einen grauen Hut auf, mit grauem Gesicht. Er erinnerte an einen Fisch, an einen drögen Stockfisch, und hatte immer ein kaltes Lächeln auf den Lippen, wie um zu verstehen zu geben, dass er sehr viel wusste.

      Er wusste überhaupt nichts, davon war Monsieur Labbé überzeugt. Ein aufgeblasener Blödian war er, ein Beamter von Geburt an, der an nichts dachte als an seine Beförderung und in die Freimaurerloge eingetreten war, weil man ihm weisgemacht hatte, das wäre hilfreich. Stark war er bloß beim Billard, wo er Serien schaffte von hundertfünfzig bis zweihundert Punkten, während er gemächlich um den grünen Filz stolzierte und sich ab und an in einem Spiegel betrachtete.

      »Geh da nicht hin, Kleiner.«

      Kachoudas war es, zu dem er das in Gedanken sagte, denn er spürte den Schwindel, der den kleinen Schneider packte, heiß wurde ihm, er wusste nicht, wohin er gucken sollte, während er an seine zwanzigtausend Franc und an die Aussage der Mama des kleinen Mädchens mit dem Klavier dachte.

      »Angeblich«, sagte Caillé noch, der Druckereibesitzer, »will er ja nur noch eine um die Ecke bringen.«

      »Wieso das?«

      »Den Grund nennt er nicht. Er behauptet immer, das sei nötig, er mache das nicht aus Lust und Laune. Lest morgen früh seinen Brief in der Zeitung. Ich bin dran? Kein Trumpf.«

      Vier Gläser Weißwein. Kachoudas hatte bereits vier Gläser Weißwein getrunken – darüber vergaß er ganz, auf die Uhr zu sehen. Die Zeit, zu der er für gewöhnlich nach Haus ging, war längst um.

      »Es passiert Montag.«

      »Was passiert Montag?«

      »Der letzte Mord. Warum Montag, weiß ich auch nicht. Bin gespannt, ob es heute oder morgen Morde gibt. Das wäre ein Indiz dafür, dass er Quatsch schreibt.«

      »Der schreibt keinen Quatsch«, sagte Julien Lambert.

      »Wieso sieben und nicht acht?«

      »Und wieso meine Schwester, die nie jemandem etwas getan hat?«

      »Vielleicht mag er alte Frauen nicht«, sagte Chantreau kehlig.

      Monsieur Labbé sah ihn neugierig an, denn die Bemerkung war gar nicht so dumm. Zwar traf sie nicht exakt zu, aber dumm war sie keineswegs.

      »Ist euch aufgefallen«, fuhr Caillé fort, »dass sie alle etwa in unserem Alter sind?«

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