Die Phantome des Hutmachers. Georges Simenon

Die Phantome des Hutmachers - Georges Simenon


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      »Mindestens zwei waren dabei, die ich im Bett hatte, und eine hätte ich fast geheiratet.«

      Lambert ging hoch wie von der Tarantel gestochen.

      »Meine Schwester?«

      »Ich rede nicht von deiner Schwester.«

      Dabei wusste jeder um Madame Geoffroy-Lamberts gastliche Schenkel. Allerdings war sie so erst ab etwa vierzig geworden, nachdem sie verwitwet gewesen war, und hatte es auch nur auf sehr junge Herren abgesehen.

      »Kanntest du Irène Mollard?«

      »Sie war hübsch, aber schon mit siebzehn hieß es, ein Vogel sei das, den würde sich die Katze holen, so zart war sie. Sentimental wie ein Fortsetzungsroman. So sentimental, dass sie nie geheiratet hat. Ich wette, sie hat als Jungfrau das Zeitliche gesegnet.«

      »Stimmt das?«, fragte man den Doktor, dessen Patientin sie gewesen war.

      »Was das betrifft, hatte ich sie nicht zu untersuchen.«

      »Wer hat drei Treff geboten? Bei drei Treff waren wir. Du bist dran, Paul.«

      Das Café war voller Qualm, angezogen von den dicken Kugellampen aus Milchglas, die seit Kurzem von der Decke hingen. Der Senator war an seinem dritten Tisch, und an jedem gab er eine Runde aus. Fast an jedem Tisch sah man ihn ein Heft aus der Tasche ziehen, etwas hineinschreiben. Nur wenige Wähler hatten keine Forderungen, sodass Laude, als Monsieur Labbé von Weitem hinübersah, gerade sein Heft in die Jacke zurücksteckte und ihm dabei zynisch zuzwinkerte.

      Früher war er der Ärmste von ihnen. Sein Vater war ein kleiner Angestellter beim Crédit Lyonnais gewesen. Der Sohn hatte die einzige Tochter einer betuchten Familie geheiratet, obwohl er nur Anwalt und Stadtrat gewesen war. Heute bewohnte er eine der dicken Villen an der Rue Réaumur, nicht weit von Madame Geoffroy-Lamberts.

      »Da fällt mir ein«, sagte Monsieur Labbé, »das Haus deiner Schwester muss doch eigentlich zum Verkauf stehen, oder?«

      »Willst du’s denn kaufen?«, fragte der andere ironisch. »Ist eine richtige Last, der alte Kasten. Hat ja gerade mal elf Schlafzimmer und hinten im Hof Ställe für bloß zehn Pferde. Ich versuche, ihn der Präfektur unterzujubeln, die brauchen ja immer Platz für Büros.«

      »Ganz ruhig, Kleiner!«

      Um ein Haar hätte Monsieur Labbé Gabriel angewiesen, dem kleinen Schneider nichts mehr zu trinken zu bringen, und bestimmt hätte Gabriel ihm gehorcht. Einen Moment lang war er beunruhigt, als Kachoudas aufsprang und es aussah, als stürze er in Richtung Tisch des Kommissars. Er ging jedoch daran vorbei und verschwand auf die Toilette.

      Seine Blase? Sein Magen? Ein glücklicher Zufall wollte, dass der Hutmacher just zu diesem Zeitpunkt pausieren musste, weshalb er sich gleichfalls zu den Waschräumen begab, rein aus Neugier, denn Angst hatte er nicht.

      Es war nur die Blase, und so standen sie nebeneinander vor den Kacheln, mit denen die Wand verkleidet war. Der kleine Schneider, der am ganzen Leib zitterte, war nicht in der Lage zu fliehen. Starr vor sich hin blickend sagte Monsieur Labbé nach einem Moment des Zögerns leise zu ihm:

      »Ganz ruhig, Kachoudas.«

      Sie waren allein. Stellte der Schneider sich vor, sein Nebenmann würde ihn erwürgen? Ohne zu lügen, hätte ihm Monsieur Labbé versichern können, dass er sein Instrument nicht dabeihatte.

      Es hatte ja nie einer daran gedacht, eine Liste derjenigen Einwohner von La Rochelle aufzustellen, die Cello spielten. Allzu viele waren es ganz bestimmt nicht.

      Was ihn betraf, so hatte man wahrscheinlich vergessen, dass er Musik gemacht hatte. Seit mindestens zwanzig Jahren hatte er nicht gespielt auf seinem Instrument, das auf dem Dachboden stand. Um zum Dachboden zu gelangen, musste er das Haus verlassen, den Durchgang zum Hof durchqueren und die Treppe nehmen, nach oben in den zweiten Stock. Das hatte er gemacht, denn er war nicht so unvorsichtig gewesen, eine Cellosaite bei dem Geigenbauer in der Rue du Palais zu kaufen. Zumal es nur einen einzigen in der Stadt gab. Und seit fünfzehn Jahren hatte der Hutmacher La Rochelle nicht verlassen, nicht mal, um nach Rochefort zu fahren, fünfzehn Jahre, in denen er nirgends sonst geschlafen hatte als in seinem Bett.

      Auch das war niemandem aufgefallen. Die anderen fehlten ab und an bei den nachmittäglichen Zusammenkünften. André Laude fuhr nach Paris zu einer Senatssitzung und verbrachte seine Ferien auf einem Schloss in der Dordogne, das zur Mitgift seiner Frau gehört hatte. Selbst Chantreau machte jedes Jahr eine Kur in Vichy. Die Familie Julien Lambert hatte ein Häuschen in Fourras, wo sie zwei Monate im Jahr verbrachte, und der Versicherungsfritze kündigte mal an, geschäftlich nach Bordeaux zu reisen, mal verabsentierte er sich nach Paris.

      Die meisten besaßen ein Auto, fuhren Bahn. Arnould, der Verfrachter, hatte vergangenen Sommer eine Kreuzfahrt nach Spitzbergen gemacht. Es gab Tage, da hatte man Mühe, für eine Partie den vierten Mann zu finden, ja mitunter musste man Leute vom Tisch der Vierzig- bis Fünfzigjährigen zu Hilfe rufen.

      Einzig der Hutmacher war immer da, und daran hatte man sich so sehr gewöhnt, dass es einem überhaupt nicht mehr auffiel. Seit wann hatte er keine echte Kuh mehr gesehen, abgesehen von den Herden, die durch die Straßen zum Schlachthof getrieben wurden?

      Anfangs hatte man ihn bedauert. Bedauert hatte man vor allem Mathilde.

      »Wie erträgt sie das?«

      »Nicht schlecht. Nicht schlecht.«

      Selbst Kachoudas … Kachoudas war nach Paris gefahren und nach Elbeuf! An bestimmten Sommersonntagen fuhr er mit den Seinen ans Meer, gut, nicht sehr weit, nach Châtelaillon, und auch nur an Tagen, an denen die Straße leer wie ein Billardtisch war und man kein anderes Geräusch hörte als das Gezwitscher der Spatzen.

      Monsieur Labbé war als Erster an seinen Platz zurückgekehrt. Er wusste genau, der andere würde ihm nachkommen.

      »Und die drei Herz?«

      »Hab fünf gemacht.«

      »Du hast ein volles Spiel verpasst. Ich gebe?«

      Es war sechs, und die Bauern wurden spärlicher. Die noch blieben, hatten ein Auto oder einen Lieferwagen, denn die Fuhrwerke, die längst aufgebrochen waren, mussten im Schritttempo durch den sich wieder eindickenden Nebel. Er war so dicht, selbst in der Stadt, dass, wenn die Tür zum Café aufging, er wie kalter Qualm in das Lokal wallte, weißer als der Qualm der Pfeifen und Zigarren.

      Wer, der nicht zu ihrem Tisch gehörte, hätte geglaubt, dass Monsieur Labbé Flieger gewesen war? Und doch war es so gewesen, während des Kriegs von ’14. Er hatte feindliche Maschinen abgeschossen wie Pfeifen auf dem Jahrmarkt und mehrere Auszeichnungen bekommen. Er hatte in La Rochelle sogar einen Aviatik-Club ins Leben gerufen, dessen Präsident er eine Zeitlang gewesen war. Und zuvor hatte er bei den Dragonern gedient.

      »Kontriere die zwei Treff.«

      »Rekontriere.«

      Ihm unterlief kein Fehler. Julien Lambert, der stets peinlich genau war, hatte ihm nicht das Geringste vorzuwerfen. Seine Ansagen waren korrekt, seine Impasse fast immer von Erfolg gekrönt.

      Wäre es nicht das Einfachste, Kachoudas die zwanzigtausend Franc anzubieten? Leisten könnte er es sich. Er war wohlhabend. Wenn seine Hutmacherei den Bach runterging, dann passierte das, weil es ihm in den Kram passte.

      Er hätte umziehen können, weil die Geschäfte sich zur Rue du Palais hin verlagert hatten, wo die Lichter und Lautsprecher des Prisunic und anderer Warenhäuser groß auftrumpften.

      Selbst in der Rue du Minage war es einfach, sein Schaufenster besser zu beleuchten, den Laden zu modernisieren, die Wände und die Regale hell anzustreichen.

      Nur wozu? Seine Freunde kauften selten einen Hut bei ihm, sie deckten sich lieber in Bordeaux oder in Paris ein. Er nahm damit vorlieb, ihre Hüte in seinem Hinterzimmer wieder in Form zu bringen, wobei er dann und wann den Wandschrank aufmachte, um an der Kordel zu ziehen.

      »Madame Labbé ruft Sie«, sagte Valentin, als wäre er der Einzige, der die Klopfer auf den Fußboden


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