Die Phantome des Hutmachers. Georges Simenon

Die Phantome des Hutmachers - Georges Simenon


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er sich denn je? Es war ihm nicht gestattet. Trotz allem, was er im Kopf hatte, gelang es ihm, nichts zu vergessen, nicht das kleinste Detail. Sonst nämlich wäre er verloren gewesen.

      Die Zeitung lag auf einem Stuhl unweit des Schneidertischs, und man sah, dass sie aufgeschlagen worden war.

      Kachoudas würde kommen. Der Hutmacher war überzeugt, dass er kommen würde, er blieb auf seiner Türschwelle stehen, blickte hinüber zu dem erleuchteten Fenster und machte dabei mechanisch, nur für sich, wie die Bäuerinnen, die die Hühner anlocken:

      »Komm, komm, putt, putt …«

      Geräuschlos ging er davon, und er hatte keine zwanzig Meter zurückgelegt, da waren hinter ihm die Schritte zu vernehmen, die er unter allen Schritten hätte heraushören können.

      Kachoudas war gekommen. Hatte er gezögert? Ein armer Kerl, wirklich. Überall auf der Welt gibt es jede Menge arme Kerle. Er musste ganz furchtbar versessen sein auf die zwanzigtausend Franc. Nie hatte er eine solche Summe auf einem Haufen auch nur gesehen, außer vielleicht hinter dem Bankschalter. Zwei Jahre bräuchte er, Tag und Nacht müsste er auf seinem Tisch verbringen, um derart viel zu verdienen.

      Diese zwanzigtausend Franc, die wollte er sich verdienen, ohne Wenn und Aber. Mit aller Macht wollte er sie haben. Ja, gerade weil alles an ihm sie so unbedingt wollte, hatte er solche Angst.

      Womöglich mehr Angst, sie zu verlieren, als Angst vor dem Hutmacher? Was passiert war, hatte passieren müssen, weil es zwangsläufig geschehen war: Immer ist es einer wie Kachoudas, der sich verdächtig macht. Kachoudas war es, den die Mutter des kleinen Mädchens mit dem Klavier gesehen und der Polizei beschrieben hatte.

      Sie gingen hintereinander her, so wie jeden Tag, und bei jedem Schritt musste der Schneider ein Bein nach außen hin nachziehen. Monsieur Labbé hingegen stolzierte ruhig und würdevoll voran, er hatte wirklich einen schönen Gang.

      Er drückte die Tür zum Café des Colonnes auf, in dem schon der Krach und der Geruch ihm klargemacht hätten, dass Samstag war. Der Geruch, ja, denn die Leute vom Samstag nahmen nicht die gleichen Getränke zu sich wie die Gäste der übrigen Tage.

      Das Lokal war voll besetzt. Einige standen sogar. Die gewöhnlichen Bauern trafen sich in den kleinen Bars rund um den Markt; hier waren es die reichsten oder unternehmungslustigsten, jene, die mit Düngemittelhändlern, Versicherungsmaklern, Gesetzesvertretern zu tun hatten, die jeden Samstag an stundenweise Schreibtisch oder Kanzlei gewordenen Tischen ihre Sitzungen abhielten.

      Einzig die Tische in der Mitte, nahe dem Ofen, blieben eine Oase der Ruhe und Schweigsamkeit.

      Chantreau, der nicht spielte, saß hinter dem Senator, der die Karten hielt. Monsieur Labbé reichte dem Arzt die Hand.

      »Guten Abend, Paul.«

      Und als sein Freund aus einem Kartonschächtelchen eine Pille fischte:

      »Geht es nicht gut?«

      »Die Leber.«

      So erging es ihm von Zeit zu Zeit. Von einem Tag zum anderen schien er um mehrere Kilo abgemagert zu sein, so ausgezehrt war sein Gesicht, mit weichen Tränensäcken unter den Augen, dem Blick eines Leidenden.

      Sie waren gleichaltrig. In der Oberschule waren sie eng befreundet gewesen, fast unzertrennlich.

      Gabriel nahm Monsieur Labbé den Mantel, den Hut ab.

      »Wie immer?«

      Vor dem Arzt, auf der Marmorplatte des Tischs, stand ein Viertel Vichy. Kachoudas, der gerade hereingekommen war, zögerte, sich zu den Spielern zu setzen.

      Armer Kerl, auch der! Nicht bloß Kachoudas, der endlich vorsichtig den Hintern auf einen Stuhl senkte, sondern genauso Paul, der Arzt. In irgendeiner Schublade musste Monsieur Labbé noch ein Foto haben, das sie beide zeigte, mit fünfzehn oder sechzehn Jahren. Chantreau war in dem Alter ein Spiddel gewesen, seine Haare mit einem Stich ins Rötliche, allerdings nicht verwaschen rot wie bei Valentin. Selbstbewusst hatte er das Kinn vorgestreckt, herausfordernd hatte er geradeaus gesehen.

      Schon da hatte er Mediziner werden wollen, kein gewöhnlicher Mediziner jedoch: ein großer Entdecker in der Art von Pasteur oder von Nicolle. Sein Vater war reich gewesen, hatte an die zehn Höfe im Aunis und in der Vendée besessen. Er hatte nichts anderes gemacht, als sie aus der Ferne zu verwalten, und, seltsam genug, seine Nachmittage im Café des Colonnes verbracht, an demselben Platz wie heute die Bridgespieler.

      »Er ekelt mich an«, hatte der junge Paul von ihm gesagt. »Er ist ein Geizhals. Was aus den Bauern wird, ist ihm schnuppe.«

      Im Grunde hatten ihre Eltern alle Besitz gehabt, Ländereien, Höfe oder Häuser, Schiffe oder Anteile an Schiffen.

      Kachoudas beobachtete Monsieur Labbé so eingehend wie verstohlen, was dieser sich aber nicht anmerken ließ. Es war ein Spiel. Letzterer bewies sich dadurch, dass er sich nichts vorzuwerfen hatte. Die Rollen waren vertauscht: Der kleine Schneider war es, der vor Angst schwitzte, der nervös sein Glas trank, manchmal mit einem Ausdruck, als würde er ihn anflehen.

      Anflehen, worum? Sich fassen zu lassen, damit er seine zwanzigtausend Franc Belohnung kassieren konnte?

      »Du trinkst zu viel, Paul.«

      »Ich weiß.«

      »Wieso?«

      Wieso trank man? Chantreau war Mediziner geworden. Er war in die Stadt zurückgezogen und hatte eine Praxis eröffnet. Er hatte entschieden:

      »Patienten werde ich nur morgens annehmen, so habe ich den Rest der Zeit frei für meine Forschungen.«

      Er hatte sich ein wahres Labor geleistet, hatte sämtliche medizinischen Zeitschriften abonniert.

      »Warum hast du nie geheiratet, Paul?«

      Vielleicht weil er Wissenschaftler hatte werden wollen, er wusste es nicht und begnügte sich mit einem Achselzucken und einer Grimasse, die der Schmerz ihm abtrotzte.

      Er hatte sich den Bart wachsen lassen, war nicht länger gepflegt. Seine Nägel waren schwarz, seine Kleidung bedenklich. Wie die, die arbeiteten, war er zuerst um sechs ins Café des Colonnes gekommen, dann um fünf, dann um vier, und jetzt war er gleich nach dem Mittagessen hier – weil um diese Zeit keiner aufzutreiben war, mit dem sich eine Partie spielen ließ, spielte er Dame mit Oscar, dem Patron.

      Inzwischen war er über sechzig, wie Monsieur Labbé. Alle waren sie über sechzig.

      »Spielst du für mich weiter, Léon? Ich muss ein bisschen mit meinen Wählern schwatzen.«

      André Laude, der Senator, der grad eben einen Rubber gewonnen hatte, erhob sich nur ungern. Um sie her herrschte ein beständiger Lärm, Schuhe, die über den mit Sägemehl bedeckten Boden trotteten, Gläser, die aneinanderstießen, Unterlegschälchen, lautere Stimmen als sonst.

      »Den werden sie auch noch kriegen, und ob«, sagte ein Landwirt mit Ledergamaschen. »Am Ende kriegen sie alle, selbst die Ausgebufftesten. Aber dann? Ihr werdet schon sehen, dass sie ihn in die Klapse stecken, angeblich weil er nicht ganz dicht ist hier oben, und wir, die Steuerzahler, sind es dann, die ihn durchfüttern, bis er krepiert.«

      »Es sei denn, ein Bursche wie ich kriegt ihn in die Finger!«

      »Du würdest es machen wie die anderen, trotz deines großen Mundwerks! Vielleicht würdest du ihm die Faust in die Fratze hauen, trotzdem würdest du ihn dann schön brav bei der Polizei abliefern. Auf dem Dorf irgendwo, ja, kann sein, da wär es vielleicht anders. Da gibt es Mistgabeln und Schaufeln.«

      Seelenruhig, ohne eine Miene zu verziehen, setzte sich Monsieur Labbé auf den Platz des Senators, der seinen Rundgang von Tisch zu Tisch angetreten hatte. Einen Moment lang fragte sich der Hutmacher, ob auch Kachoudas erkältet war, so rot war er, hatte glänzende Augen, bemerkte dann aber zwei Unterlegschälchen unter seinem Glas.

      Der Schneider trank! Womöglich, um sich Mut zu machen? Schon gab er Gabriel ein Zeichen, ihm einen dritten Weißwein zu bringen.

      »Wir spielen zusammen«,


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