Die Ungerächten. Volker Dützer

Die Ungerächten - Volker Dützer


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und anderen. Darf ich fragen, warum Sie sich ausgerechnet für Rolf Heyrich interessieren? Er war kein Entscheidungsträger im Staatsapparat der Nazis, eher ein Opportunist, der sich die Hände schmutzig gemacht hat, um leichter Karriere machen zu können.«

      »Heyrich war kurz vor Kriegsende Rädelsführer bei einem vierfachen Mord. In dem kleinen Ort Hagenstein nördlich von Frankfurt ließ er junge Soldaten erschießen, die desertiert waren. Mindestens einen von ihnen hat er eigenhändig umgebracht.«

      Lenz rieb sich das Kinn. »Wenn das stimmt, wird es schwierig werden, ihn dafür zur Verantwortung zu ziehen. Vorausgesetzt er lebt überhaupt noch und wir finden ihn.«

      »Warum?«

      Lenz blickte sie aus seinen blauen Augen an. Hannah schüttelte mühsam ein Déjà-vu ab.

      »Würden Sie mir zuerst eine Frage beantworten?«, sagte Lenz.

      »Wenn ich kann, gerne.«

      »Ich vermute, Sie kannten die Opfer?«

      Sie nickte widerstrebend. »Ja, einen von ihnen kannte ich gut.«

      Lenz lehnte sich zurück. »Ich verstehe. Daher rührte Ihr Erschrecken, als Sie mich sahen. Wenn die Ähnlichkeit so groß ist, wie Sie behaupten, müssen Sie geglaubt haben, einem Toten zu begegnen.«

      Hannah begann, sich zu ärgern. War sie so leicht zu durchschauen?

      »Ich will, dass Heyrich für das, was er getan hat, verurteilt wird«, sagte sie.

      »Das glaube ich Ihnen gerne. Es könnte jedoch schwierig werden, denn nach der damaligen Militärgerichtsbarkeit hatte er das Recht, ein Standgericht einzuberufen, musste es sogar. Er würde seine Verteidigung darauf aufbauen und vermutlich damit durchkommen.«

      »Er besaß keine Befähigung zum Richteramt. Nur ein Feldrichter hätte ein Sondergericht einberufen können. Das ist jedoch nicht geschehen. Heyrich und seine Kumpane haben vier junge Männer ermordet, um das geraubte Gold aus der Tötungsanstalt Hadamar in Sicherheit zu bringen.«

      »Das müssen wir zuerst beweisen. Und dafür müssten wir ihn erst mal haben.«

      »Ich kriege ihn.«

      Lenz betrachtete sie prüfend. »Ich werde Ihnen helfen, soweit es in meiner Macht steht. Gibt es sonst noch etwas, was ich für Sie tun kann, Fräulein Bloch?«

      Hannah zog den Umschlag mit dem Entlastungszeugnis aus ihrer Tasche. »Ja, da wäre eine Formalität. Lieutenant Young ist in die USA aufgebrochen, ohne diesen letzten Fall abzuschließen, an dem wir gemeinsam arbeiteten. Dafür dürften Sie wohl nun zuständig sein.«

      Lenz nahm den Umschlag entgegen und überflog den Entnazifizierungsbescheid.

      »Auch ein Freund von Ihnen?«, fragte er beiläufig.

      Hannah spürte, dass sie rot wurde. Sie stellte sich vor, Lenz im Gerichtsaal gegenüberzustehen. Es musste äußerst schwierig sein, ihn anzulügen oder ihm Dinge vorzuenthalten.

      »Max Pohl ist mein Geschäftspartner.«

      Er faltete den Bogen zusammen. »Ich verstehe. Nun, ich muss die Angelegenheit natürlich zuerst prüfen.« Er lächelte und zog eine altmodische Taschenuhr hervor.

      Hannah spürte einen Stich im Herzen. Hans hatte eine ähnliche Uhr besessen.

      »Wie wäre es, wenn ich Ihnen die Urkunde … sagen wir … heute Abend zurückgebe? Wäre das früh genug?«

      »Heute … Abend schon?«, stotterte sie.

      Lenz nickte. »Wenn Sie mir die Ehre erweisen, mit mir essen zu gehen. Ich kann das Restaurant am Römer empfehlen.«

      Hannah starrte Lenz an, ohne zu begreifen.

      »Ich sehe, mein Vorschlag macht keinen großen Eindruck. Ein schwerer Schlag für meine Eitelkeit, und äußerst schade noch dazu.«

      »Nein, nein. Ich … äh … nehme gerne an.«

      Was zum Teufel soll ich bloß anziehen?, dachte sie.

      8

      Auf der Suche nach einem Schlafplatz wanderte Pawel durch menschenleere Straßen. In einem ausgebombten Haus, das wegen Einsturzgefahr geräumt worden war, fand er Schutz vor der beißenden Kälte. Er ignorierte die Warnschilder, kletterte über verkohlte Balken und Trümmer und stieg in den unversehrten Keller hinab, den die Bewohner als Luftschutzraum genutzt hatten. Was wohl aus ihnen geworden war? Die Decke war mit kräftigen Holzstützen verstärkt worden, Wasser tropfte in hastig herbeigeschaffte Wannen, in denen man Löschwasser bereitgestellt hatte. Möbel und alltägliche Dinge standen herum, als würden ihre Besitzer jeden Moment wiederkommen. Pawel fand eine Wolldecke und schlang sie um seine Schultern, dann kauerte er sich auf ein rostiges Bettgestell und starrte in die Dunkelheit.

      Als er aus dem Blutrausch erwacht war, hatte die Angst vor Entdeckung sein Denken bestimmt. Erst jetzt, in der Stille seines Verstecks, fing sein Verstand an, den Mord zu verarbeiten. Schwarz wie Ölfarbe schienen die Kellerwände Blut auszuschwitzen, Ströme von Blut. Er hörte Mitschkes Wimmern, den dumpfen Aufprall der Eisenstange und das Knacken zerbrechender Knochen. Pawel begann, unkontrolliert zu zittern. Er redete sich ein, dass es die nächtliche Kälte war, aber er wusste, dass das nicht stimmte.

      Er barg den Kopf zwischen den Knien und weinte. Sie hatten ihn geschlagen, gequält und fast verhungern lassen, und nun hatten sie ihn zum Mörder gemacht. Mitschkes bis zur Unkenntlichkeit zerschundene Glieder beschworen die entsetzlichen Bilder der misshandelten Opfer von Sachsenhausen herauf. Zu Pawels Aufgaben im Lager hatte es gehört, Asche und Knochenreste der Ermordeten zu vergraben. Um nicht den Verstand zu verlieren, hatte er sich in Tagträumereien geflüchtet. Bald war er in der Lage gewesen, eine innere Welt entstehen zu lassen, die die Wirklichkeit zu überlagern begann. Manchmal hatte er nicht mehr zwischen Realität und Traum unterscheiden können. Heute wusste er, dass ihm das Verschwimmen beider Welten das Leben gerettet hatte. Wie damals im Lager zwang er sein Bewusstsein, auf eine Reise zu gehen, die ihn in eine Zukunft führte, in der Milena und Josef lebten und glücklich waren, in eine Welt ohne Nazis, Konzentrationslager, Rache und Mord.

      Bald forderte die Erschöpfung ihren Tribut, Pawel fiel in einen unruhigen Schlummer. Als er erwachte, sickerte graues Morgenlicht durch ein Kellerfenster. Was in der Nacht geschehen war, kam ihm nun unwirklich vor, als hätte ein Fremder Mitschke ermordet – ein dunkles Wesen, von dem er nichts gewusst hatte und das dennoch die ganze Zeit in ihm gewesen und nun erwacht war.

      Er saß still auf der Kante des schimmeligen Sofas, auf dem er die Nacht verbracht hatte, und lauschte den Geräuschen der erwachenden Stadt. Es kam ihm so vor, als ob etwas fehlte, das gestern noch da gewesen war. Etwas, das ihn mehr gequält hatte als die furchtbaren Erinnerungen an die Lagerhaft und die ungezählten Toten. Es dauerte eine Weile, bis ihm die Erkenntnis dämmerte. Das Gefühl lähmender Schuld, das er mit sich herumschleppte wie eine eiserne Kette, die ihn an die Vergangenheit fesselte, war nicht verschwunden, aber verblasst. Die flüsternden Stimmen, die unentwegt eine Erklärung von ihm forderten, warum ausgerechnet er überlebt hatte, während seine Familie hatte sterben müssen, waren deutlich leiser geworden.

      Pawel straffte sich und stand auf. Er hatte getan, was er tun musste. Mitschke war ein Sühneopfer gewesen, das war ihm nun klar. Sein Vater hatte ihm den Weg aufgezeigt, den er gehen musste. Ein Weg, der viele Opfer verlangte und noch lange nicht zu Ende war. Doch am Ziel würde sich das Versprechen, das er gegeben hatte, auf eine Weise erfüllen, die der alte Mann in seiner Weisheit vorausgesehen hatte: Die Seele seines Sohnes würde Frieden finden. Es war eine bittere Medizin, aber die einzige, die Heilung versprach. Ja, er hatte versprochen, Rache zu nehmen, und Versprechen durfte man nicht brechen.

      Schweigend sah er zu, wie die Nacht dem Morgen wich. Je heller es wurde, desto mehr verblassten die Bilder von Blut und Gewalt. Die Schatten wurden kürzer und Pawel gelang es, seine Tat zunehmend in einem anderen Licht zu bewerten. Er war kein Mörder. Nein, das Versprechen hatte ihn zum Richter und Henker in einer Person gemacht. Das Schicksal hatte ihm eine große Verantwortung aufgebürdet und er


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