Die Ungerächten. Volker Dützer
dem Fahrweg neben den Gleisen wartete mit laufendem Motor ein Lastwagen. Im Licht der Scheinwerfer sah Pawel zum ersten Mal die Gesichter seiner Retter. Sie waren zu dritt, zwei Männer und eine Frau. Alle waren in seinem Alter und trugen schwarze Hosen und Jacken. Die Frau kletterte als Erste auf die Ladefläche. Nachdem alle Platz gefunden hatten, setzte sich der Laster schaukelnd in Bewegung. Die Männer bedachten Pawel mit finsteren Blicken. Die Frau nahm ihre schwarze Wollmütze ab und schüttelte das lange rotblonde Haar.
»Was hattest du dort zu suchen?«, fragte sie.
Pawel suchte nach einer Erklärung, die die drei zufriedenstellen würde. Wie würden sie reagieren, wenn er gestand, Mitschke erschlagen zu haben? Er entschloss sich, die Wahrheit zu sagen.
»Ich wollte eine alte Rechnung begleichen.«
»Du kennst Mitschke von früher?«, fragte einer der Männer.
Pawel nickte stumm. Wer waren diese Leute? Sie hatten ihn vor Gomulka beschützt, also standen sie auf seiner Seite, oder doch nicht?
»Du bist nicht von hier«, sagte die Frau. »Woher kommst du?«
»Geboren bin ich in Warschau, aber 1928 zog meine Familie nach Deutschland, da war ich fünf Jahre alt. Aufgewachsen bin ich in Waren an der Müritz. Mein Onkel führte dort einen Kurzwarenhandel, in den mein Vater einstieg«, erklärte Pawel. »Vor dem Krieg konnte man hier noch gut leben. Besser als in Polen jedenfalls.«
»Bist du Jude?«, fragte einer der Männer.
Pawel dachte an die Unterhaltung, die er in der Notunterkunft belauscht hatte. Vielleicht brachte es auch für ihn Vorteile mit sich, wenn er sich als Jude ausgab. Der Mann würde nicht danach fragen, wenn er nicht selbst einer wäre.
»Ja«, antwortete er schnell.
»Was machen wir mit ihm?«, fragte der andere Mann.
»Wir verpassen ihm eine Abreibung und schmeißen ihn raus«, sagte der Erste.
»Ich habe euch nichts getan!«
»Nichts getan? Wegen dir sind wir fast aufgeflogen und die Sore können wir auch in den Wind schießen.«
»Durchsucht ihn!«, befahl die Frau.
Die beiden Männer gehorchten. Sie durchwühlten seine Taschen und fanden das Geld.
Die Frau pfiff durch die Zähne. »Woher hast du das?«
»Von Mitschke.«
»Das hat er dir wohl kaum freiwillig gegeben, oder?«
»Nein.«
»Du bist ein komischer Vogel. Wie heißt du?«, fragte die Rothaarige.
»Pawel.«
Der Laster rumpelte durch ein Schlagloch. Die Frau fluchte und schlug mit der flachen Hand gegen die Rückwand des Fahrerhauses.
»Soso, Pawel aus Warschau«, sagte sie dann. »Ein polnischer Jude, der eine Rechnung mit einem SS-Schwein offen hat.«
Die beiden Männer schienen sich zu entspannen. Hatten sie ihn als einen der Ihren akzeptiert?
»Ihr glaubt mir nicht.«
Sie sahen ihn schweigend an.
»Vielleicht überzeugt euch das hier.«
Er schob den Hemdärmel zurück und zeigte ihnen die eintätowierte Häftlingsnummer.
»In welchem Lager warst du?«, fragte der erste Mann.
»Sachsenhausen.«
»Was hast du mit Mitschke gemacht?«, fragte die Rothaarige.
Pawel schwieg und presste die Lippen aufeinander.
Einer der Männer stöhnte auf. »Sag bloß nicht, du hast ihn umgebracht.« An die Frau gewandt sagte er: »Ich hab doch geahnt, dass er Scherereien macht, aber du musstest ihn ja unbedingt mitschleppen.«
Pawel dachte an Gomulka. »Der Kerl mit den Hunden«, sagte er.
»Was ist mit dem?«, fragte die Frau.
»Er hat mich gesehen und er kennt meinen Namen.«
»Wir müssen ihn loswerden«, sagte einer der Männer.
Die Frau zählte das Geld und gab ihm die Hälfte. »Den Rest behalten wir als Entschädigung.« Sie klopfte gegen das kleine Fenster. »Halt an!«
Der Laster wurde langsamer und kam zum Stehen. Pawel steckte die Scheine ein und kletterte auf die Straße hinab.
Bevor der Wagen anrollte, erschien der rotblonde Haarschopf der Frau. »Komm morgen Abend nach Frankfurt in den Baumweg Nummer 5. Frag nach Esther.«
Sie zog die Plane zu, der Laster fuhr an. Pawel blieb allein zurück. Inzwischen musste Gomulka seinen toten Chef gefunden haben. Nun würde die Polizei nach Pawel suchen, nach Pawel Kowna, dem Mörder.
7
Hannah zog zum letzten Mal die Uniform an, die sie als Zivilangestellte der »War Crimes Group« auswies: Eine weiße Bluse und darüber eine olivgrüne, kurz geschnittene Jacke, dazu beigefarbene Hosen. Aufnäher mit der Aufschrift WCG und dem Weißkopfseeadler – dem Wappentier der Vereinigten Staaten von Amerika – zierten die Ärmel.
Nach Kriegsende hatte Scott seine Vorgesetzten beim CIC davon überzeugt, wie wertvoll eine enge Zusammenarbeit mit den Deutschen auf der Suche nach Kriegsverbrechern sein würde. Es hatte Hannah großen Spaß bereitet, mit ihm gemeinsam die neue Uniform zu entwerfen. Scott hatte ihr das Gefühl gegeben, gebraucht zu werden und eine wichtige Aufgabe zu erfüllen.
Wenn ihre verrückte Idee einer eigenen Frachtfluggesellschaft Erfolg haben sollte, brauchte sie seine Unterstützung. Nach ihrem Streit hegte sie allerdings wenig Hoffnung, dass er ihr helfen würde. Schließlich hatte er deutlich zum Ausdruck gebracht, was er davon hielt, wenn sie als Pilotin arbeiten würde. Andererseits ging es jetzt nicht mehr darum, eine Anstellung zu finden, sondern ein eigenes kleines Unternehmen zu gründen. Daher fuhr sie mit der Roundup-Linie 13 zum I.G.-Farben-Haus. Die vor den Fenstern vorbeiziehende Trümmerwüste drohte ihr jedes Mal das Herz zu zerreißen, denn Frankfurt war und blieb ihre Heimatstadt. Heute jedoch nahm sie den Anblick kaum wahr, ihre Gedanken weilten bei dem bevorstehenden Treffen. Ihre Zukunft hing davon ab, ob sie Scott würde überzeugen können.
Mit klopfendem Herzen passierte sie die Kontrollen der Sperrzone und ging zu seinem Büro im Hauptquartier der amerikanischen Streitkräfte. Scott war nicht da. Ein Sergeant teilte ihr mit, dass sich Scott auf einer Dienstreise befand und nicht vor Ablauf einer Woche zurückkehren würde. Hannah machte sich auf den Rückweg zum Hangar, wo sie Pohl dabei half, die Ju 52 flugtüchtig zu machen. Sie verbrachte Tage quälender Ungewissheit, ob ihr verrückter Plan sich in die Tat umsetzen ließ. Bei einer gründlichen Inspektion entdeckten sie Korrosion an Teilen der tragenden Rumpfkonstruktion – ein Schaden, der häufig bei den alten Junkersmaschinen auftrat. Daraufhin mussten Hannah und Max schwitzend und schimpfend die Verkleidungen der Front abnehmen, um den Rost zu beseitigen.
Während der komplizierten Arbeiten lernte sie den alten Flieger kennen und schätzen. Unter seiner rauen Schale besaß Max einen gutmütigen Kern, aber sein Wesen hatte auch Schattenseiten offenbart. Er soff wie ein Loch, wenn sie nicht auf ihn aufpasste.
Eine Woche später fuhr sie noch einmal zum I.G.-Farben-Haus.
Überall standen Kartons mit Akten und Ordnern herum, Mitarbeiter waren damit beschäftigt, die Räume für eine anderweitige Nutzung herzurichten. Die meisten Möbel waren bereits abtransportiert worden. Scott telefonierte. Als er Hannah sah, gab er ihr einen Wink, auf dem einzigen Stuhl Platz zu nehmen, der noch verfügbar war. Sie zog es vor zu stehen und versuchte heimlich, in seiner Miene nach Anzeichen zu lesen, wie er auf ihr Vorhaben reagieren würde. Endlich legte er auf und kam zögernd auf sie zu. Etwas unsicher umfasste er ihre Schultern und küsste sie behutsam auf die Wange.
»Ich hatte nicht damit gerechnet, dich vor meiner Abreise noch einmal zu sehen«,