Die Ungerächten. Volker Dützer
»Ich wollte nicht, dass wir im Streit auseinandergehen.«
Auf der Fahrt durch die Stadt hatte sie nur darüber nachgedacht, wie sie ihn überreden könnte, ihr zu helfen. Nun, da der endgültige Abschied bevorstand, wurde ihr bewusst, dass sie sehr viel mehr für ihn empfand, als sie sich eingestanden hatte. Hannah kämpfte mit den Tränen.
Scott setzte sich auf die Kante seines Schreibtischs, wie er es so oft getan hatte, wenn sie über Strategien diskutierten, Naziverbrecher aufzuspüren.
»Das bedeutet wohl, dass du deine Meinung nicht geändert hast«, sagte er.
»Scott, es tut mir leid, ich kann nicht anders. Versteh doch, ich würde nicht glücklich werden in Amerika. Nicht, bevor ich meine Aufgabe hier erfüllt habe.«
»I know. Nun, vielleicht hilft dir das hier, schnell zu einem Ergebnis zu kommen.« Er ging um den Tisch herum und zog eine dünne Akte aus einer Schublade. »Ich habe meine Leute angewiesen, alles zusammenzutragen, was wir über Rolf Heyrich wissen. Die Gerüchte, dass er in der Gegend von Köln gesehen wurde, haben sich bestätigt. Er hat als Knecht auf einem Bauernhof gearbeitet. Als ihm der Boden unter den Füßen zu heiß wurde, ist er untergetaucht. Möglicherweise befindet er sich auf dem Weg nach Südtirol.«
»Danke. Das ist … sehr nett von dir.«
»Ich habe veranlasst, dass du dein Büro weiterhin benutzen darfst, bis sie unseren Laden endgültig dichtmachen. Ich lege das Dossier in deinen Schreibtisch.«
Er lächelte und blickte sie zugleich traurig an. Hannah wandte sich ab, damit er ihre Tränen nicht sah.
»Wer weiß, wohin das Leben uns führt? Vielleicht sehen wir uns ja bald wieder«, sagte sie.
»Ich werde auf dich warten.«
»Das solltest du nicht.«
»Ich werde es trotzdem tun.« Er riss einen Zettel von einem Block ab und schrieb etwas auf. »Hier. Das ist meine Adresse in Boston, Massachusetts, und eine Telefonnummer, unter der du mich erreichen kannst.«
Sie nahm das Papier entgegen und drehte es nervös in den Fingern. Schweigend standen sie sich eine Weile gegenüber.
»Scott, es tut mir leid, dass …«
»Vergiss den dummen Streit. Ich liebe dich, Hannah. Und ich werde auf dich warten. Das verspreche ich dir. Tu, was du tun musst, und dann lass all dies hinter dir.«
Sie antwortete nicht und schluckte heftig.
»Kann ich sonst noch etwas für dich tun?«, fragte Scott.
Sie nickte langsam. »Ja. Das könntest du tatsächlich.«
Sie berichtete von ihrer Begegnung mit Max Pohl und ihrem Plan, eine eigene Fluglinie zu gründen.
»Glaubst du, dass die Deutschen bald wieder fliegen dürfen?«, fragte sie hoffnungsvoll.
»Nicht in absehbarer Zeit. Die Briten sind nicht begeistert von dieser Vorstellung.«
»Das bedeutet …«
»Das bedeutet, dass du als Zivilangestellte der US-Army mein Vertrauen besitzt.« Er zog ein weiteres Dokument aus der Schreibtischschublade und reichte es ihr. »Ich gestehe, ich habe mich ein bisschen nach dir umgehört. Wie es dir geht, was du so machst. Ein Sergeant der Air Force hat mir von dem crazy girl erzählt, das unbedingt fliegen will. Dies ist … nun … gewissermaßen mein Abschiedsgeschenk. Ich hätte es dir vor meiner Abreise zukommen lassen, aber da du schon mal hier bist, kann ich es dir selbst geben.«
Hannah las das auf Englisch verfasste Schreiben. Es war die offizielle Erlaubnis der amerikanischen Militärführung, im Auftrag der US-Army Kurier- und Frachtflüge im europäischen Raum auszuführen. Ihr Herz machte einen Sprung.
»Oh, Scott. Wie soll ich dir nur danken?«
»Indem du Heyrich findest und der deutschen Staatsanwaltschaft übergibst. Und dann kommst du zu mir nach Boston. Wenn es sein muss, mit diesem fliegenden Koffer, von dem du erzählt hast. In der Akte über Heyrich findest du übrigens die Visitenkarte von Harald Lenz, einem jungen, engagierten Staatsanwalt. Er hat in Braunschweig mit Fritz Bauer zusammengearbeitet. Ich habe bereits mit ihm gesprochen, Lenz wird dein Ansprechpartner sein, falls du Akteneinsicht oder juristische Unterstützung brauchst.«
Sie fiel ihm um den Hals.
»Ich werde dich vermissen, Scott.«
»Ich dich auch. Wir werden uns wiedersehen, ganz gewiss; und wenn ich mit einem Ruderboot den Atlantik überqueren muss, um dich zu holen.«
»Wann wirst du abfliegen?«, fragte Hannah.
»Gleich morgen früh. Und nun geh. Ein Lieutenant der US-Army sollte in der Öffentlichkeit keine Tränen vergießen.«
Die Verkehrsverbindungen waren unzuverlässig und so konnte Hannah am selben Tag nicht mehr zum Flughafen fahren, um Max die gute Nachricht mitzuteilen. In der folgenden Nacht tat sie vor lauter Aufregung kein Auge zu. Sie fieberte dem Morgen entgegen und nahm gegen halb elf die erste Straßenbahn. Zum ersten Mal seit vielen Wochen zeigte sich die Sonne, Hannah nahm es als gutes Omen. Lächelnd versuchte sie, sich das verblüffte Gesicht des griesgrämigen alten Fliegers vorzustellen, wenn sie ihm die Fluglizenz präsentierte, und machte sich auf den Weg zum Hangar.
»Max? Ich habe gute Neuigkeiten!«, rief Hannah. »He, Max, wo steckst du?«
Der Hangar war leer. Sie machte kehrt und lief zum Hauptgebäude des Flughafens. Sie fand Max dort, wo sie ihn vermutet hatte. Er saß am Tresen in der Fliegerklause und starrte gedankenverloren in eine Tasse mit Ersatzkaffee. Seine Augen waren blutunterlaufen, sein bartstoppeliges Gesicht sah grau und schlaff aus. Wahrscheinlich hatte er gestern Abend zu tief ins Glas geschaut. Verärgert setzte sie sich auf den Barhocker neben ihm.
»Ich laufe mir die Hacken ab, um eine Fluglizenz zu besorgen, und du hast nichts Besseres zu tun, als dich zu besaufen. Hast du die Ersatzteile besorgt, die wir brauchen?«
Er stierte sie aus glasigen Augen an. »Wozu? Die Tante wird nie abheben.«
Hannah verdrehte die Augen. Max konnte trotz seiner Versehrung schuften wie ein Ackergaul, aber wenn Schwierigkeiten auftauchten, steckte er zu schnell den Kopf in den Sand. Sie holte die Akte aus ihrer Umhängetasche und präsentierte ihm die Lizenz.
»Was sagst du jetzt?«
Er warf einen kurzen Blick auf das Dokument und zuckte mit den Schultern. »Es ändert nichts.«
Verdrossen zog sie die Augenbrauen zusammen. »Was soll das heißen?«
»Bloch & Pohl bleibt ein Hirngespinst. Das soll es heißen.« Er winkte dem Kellner und bestellte einen Schnaps.
»Was ist passiert?«
»Jemand hat Wind von unserem Plan bekommen. Es gibt Leute, denen es nicht passt, dass wir fliegen. Ich war beim Notar wegen der Gründung der Gesellschaft.«
»Und weiter?«
»Ich darf keine Fluggesellschaft gründen. Ich darf überhaupt kein Unternehmen gründen.«
»Warum nicht?«
Er kratzte sich die Boxernase. »Naja, ich bin da im Krieg in ’ne dumme Sache reingeraten.«
Er griff nach dem Schnapsglas, Hannah zog es ihm fort. So dicht vor dem Ziel durfte die Verwirklichung ihres Traums nicht scheitern.
»Sag endlich, was passiert ist.«
»Nachdem die Nazis meine Maschinen konfisziert hatten, musste ich meinen Laden dichtmachen. Also hab ich mich freiwillig zur Wehrmacht gemeldet. Sie hätten mich sowieso zum Kriegsdienst eingezogen.« Er schüttelte bedauernd den Kopf. »Ich hab immer vorbeigeschossen, glaub mir, Mädchen. Ich wollte mich nicht zum Mörder machen lassen. Hab ich dir schon erzählt, wie ich …«
»Weiter«, unterbrach ihn Hannah. Sie kannte seine ausschweifende Art inzwischen. Wenn er einen in