Der eigen-sinnige Mensch - eBook. Helmut Milz
Der eigen-sinnige Mensch
Körper, Leib & Seele im Wandel
HELMUT MILZ
DER EIGEN-SINNIGE MENSCH
KÖRPER, LEIB & SEELE IM WANDEL
INHALT
EINBLICK
BERÜHREN – Die Welt ertasten und empfinden
SCHMECKEN – Was auf der Zunge liegt
RIECHEN – Immer der Nase nach
HÖREN – Was uns zu Ohren kommt
SEHEN – So weit die Augen reichen
DAS MENSCHLICHE HERZ – Der herzliche Mensch
ATMEN – Im ständigen Wechsel
DAS NERVENGEFLECHT – Informationen und Botschaften
BAUCH UND BAUCHGEFÜHLE – Was alles zu verdauen ist
DIE KNOCHEN – Dynamischer Halt und lebendiges Gewebe
MUSKELKRAFT UND MUSKELSINN – Bewegung und Gespür
DER INNERE FLUSS DES LEBENS – Was in uns fließt
AUSBLICK
Dank
Literaturhinweise
Bildnachweis
EINBLICK
Wir leben unser Leben nach vorne. Vieles wird uns erst im Nachhinein verständlicher. Es geht implizit um den Wunsch, man selbst zu sein und bleiben zu können. Sinn und Eigensinn unseres Lebens erscheinen bisweilen paradox oder unsinnig, unglaublich, aber wahr und rätselhaft. Von Schicksalsschlägen bis zu günstigen Fügungen bereitet unser Leben überraschende Wendungen. Es stellt uns ungefragt vor Herausforderungen und hinterlässt Spuren in uns. Im Leben hält sich vieles nicht an Eindeutigkeit, klare Zuordnung oder Endgültigkeit, bleibt unscharf und flexibel, lineare »Wenn-dann-Erklärungen« greifen zu kurz. Es tauchen zuvor unbeachtete Wechselwirkungen auf, die überraschend Neues hervorrufen.
Der Körper ist die Bühne unseres Lebens
Unser Körper ist Mittelpunkt, Werkzeug, Ausdrucksmittel und Bühne des Lebens. Es verändert sich in, durch und mit ihm. Er ist Teil der Natur und ist in soziale Zusammenhänge eingebettet, an die wir uns anpassen müssen oder die wir verändern. Bei ausreichender Ernährung, Bewegung, Ruhephasen, Zuneigung und Pflege reguliert sich unser Körper weitgehend selbst. Unsere leibliche Intelligenz leistet das meiste in unserem Leben ohne bewusstes Zutun.
Was wir sehen und hören, bewegt unsere Herzen, Muskeln und Eingeweide. Unser Gedächtnis beeinflusst, was wir riechen und schmecken. Wen und was wir berühren, geht auch unter die Haut. Ein Schrecken fährt uns spürbar ins Mark, oder eine freudige Überraschung lässt uns aufatmen. Wir kommunizieren Körpererfahrungen in Metaphern und vertrauten Redewendungen, meistens ohne bewusst auf diese zu achten.
Die Konzepte und symbolischen Bedeutungen des Körpers und seiner Organe haben sich historisch geändert. Vom intuitiven Eigenerleben über ein magisches, mythisches, traditionelles oder volkskundiges Verständnis des Körpers, von rationalen Körperkonzepten der Antike und des Mittelalters über anatomische Sektionen, physiologische Mechanismen, mikroskopische Untersuchungen, biochemische Erforschungen der Zellen, Moleküle und flüssigen Anteile bis zu psychosomatischen Studien, neuen Erkenntnissen der Psychoneuroimmunologie und Neurobiologie sowie zum erfahrenen Leib und dessen subjektiver Bedeutung bleiben die Vorstellungen des Körpers im Fluss.
Aus meiner Tätigkeit als Arzt und Psychotherapeut kenne ich die Unwägbarkeiten eines geplanten Vorgehens, das oft unerwartet von schicksalhaften Zufällen in andere Richtungen gelenkt werden kann. Menschen erkranken mitten aus einem glücklichen Leben heraus, ohne verständlichen Grund. Andere, schwer erkrankte Menschen werden trotz ihrer schlechten medizinischen Prognose überraschend wieder gesund. Manchmal lassen sich dafür Gründe finden, häufig fehlt aber auch eine schlüssige Erklärung.
Verantwortung für das eigene Leben annehmen
Solidarisches, soziales Zusammenleben ist ein wichtiger Faktor für die Gesundheit. Trotzdem bleibt sich jede/r selbst der/die Nächste. Die Praxis einer gesunden »Selbstliebe« (Erich Fromm) ist für viele Menschen ein längerer Lernprozess. »Niemand kann dir die Brücke bauen, auf der gerade du über den Fluss des Lebens schreiten musst, niemand außer dir allein. Zwar gibt es zahllose Pfade und Brücken und Halbgötter, die dich durch den Fluss tragen wollen; aber nur um den Preis deiner selbst: Du würdest dich verpfänden und verlieren. Es gibt in der Welt einen einzigen Weg, auf welchem niemand gehen kann, außer dir: wohin er führt? Frage nicht, gehe ihn.« (Friedrich Nietzsche)
Um dem Leben gewachsen zu sein, müssen wir immer wieder neu präsent sein. Es hilft, mit seinem Leben weniger achtlos umzugehen.
Wem erzählt der menschliche Körper was?
Im Krisen- oder Krankheitsfall ändert sich das Verhältnis zum eigenen Körper. Viele Menschen haben erst ein distanziertes, fast fremdes Verhältnis gegenüber ihrem Körper. Sie misstrauen ihren Sinnen, Empfindungen, Ahnungen, Intuitionen und Gedanken. Stattdessen hoffen sie, dass die Medizin oder ExpertInnen ihren Körper stellvertretend untersuchen und reparieren.
Die Medizin untersucht ihren Körper neutral, objektiv, von außen und innen. Sie hat eigene Blickwinkel und Lesarten des Körpers, die sich an Anatomie, Physiologie und Biochemie, definierten Organen, Funktionsweisen und Körpersystemen orientieren. Ihre Untersuchungen werden durch technische Geräte ergänzt. Schließlich übersetzt die Medizin das Befinden erkrankter Menschen in medizinische Befunde.
»Erzählungen« des kranken Körpers haben sich in der Heilkunde im Laufe ihrer Geschichte häufig verändert. Ihre Konzepte und Behandlungsstrategien des Körpers unterscheiden sich von den Vorstellungen und Erwartungen der Hilfe suchenden Menschen. Die Medizin ist nur am Rande an den Besonderheiten, Stärken und Schwächen der einzelnen Menschen interessiert. Viele medizinische Untersuchungen bleiben auch deshalb unzureichend, weil sie die Lebensgeschichte und Lebensumstände der Menschen nicht genügend berücksichtigen.
Ratschläge und Erkenntnisse der Wissenschaften helfen, unsere Orientierungen zu verbessern. Sie können aber keine Gewissheit bieten, was für die Einzelnen möglich und notwendig ist. Die Mehrzahl der Krankheiten lässt sich erst dann zufriedenstellend behandeln, wenn die Menschen aktiv an ihrer Genesung teilnehmen.
Angesichts des enormen Zuwachses an Wissen benötigt die Medizin viele Spezialdisziplinen. Diese sprechen immer weniger die gleiche Sprache und tauschen sich kaum untereinander aus. Zugleich müssen alle Disziplinen die Herausforderungen einer ganzheitlich-integrierenden Zusammenschau des Befindens und der Befunde im Blick behalten. Durch fortschreitende Ökonomisierung des Gesundheitswesens verbringen ÄrztInnen heute oft mehr Zeit mit administrativen Aufgaben als mit qualitativen Patientenkontakten. Die Entwicklung von professionellem Einfühlungsvermögen und Mitgefühl erfordert aber gezielte Aufmerksamkeit und Zeit. Die Förderung von Hilfe zur Selbsthilfe braucht Geduld und Übung.
Toleranz, Respekt und Humor
In meiner rheinischen Heimat gibt es ein Sprichwort, das sagt: »Jede Jeck is anders, jeder is anders jeck und jet jeck sin mir all« (Jeder Narr ist anders, jeder ist anders närrisch und etwas närrisch sind wir alle). Es weist auf die Vielfältigkeit der Menschen hin, denen wir mit Respekt und Toleranz, mit Humor und manchmal mit Demut begegnen sollten. Andere sind für uns auch ein Buch, ein Gemälde oder ein Spiegel, in dem wir uns selbst erkennen können.
Mit neuen Erkenntnissen und Herausforderungen umgehen
Ein umfassenderes Verständnis des Körpers braucht interdisziplinären Austausch zwischen Heilkunde und anderen Wissenschaften und Künsten. In diesem Buch setze ich unterschiedliche Forschungsergebnisse mit eigenen Beobachtungen und Erfahrungen in plausible Beziehungen.