Der eigen-sinnige Mensch - eBook. Helmut Milz

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Nervensystem weiter. Ihre Geschwindigkeit ermöglicht reflexartiges Reagieren. Insgesamt umfassen die »A-Nervenfasern« etwa 25 Prozent der Tastempfindung. Die Nervenleitgeschwindigkeit der »A-Fasern« ist etwa 50-mal höher als diejenige der »C-Fasern«, die nicht mit einer Markscheibe versehen sind.

      »C-Fasern« nehmen taktile Wahrnehmungen auf und sind in erster Linie für gefühlsbezogene Qualitäten der Berührung zuständig. Sie leiten sowohl angenehme Berührungen als auch Empfindungen von Schmerz, Temperatur oder Juckreiz an das Gehirn weiter. »C-Fasern« befinden sich ausschließlich in den behaarten Zonen des Körpers. Gefühlsbezogene Berührungen waren bis dahin wissenschaftlich kaum erforscht und verstanden.

      Die beschriebenen Rezeptoren und Nervenleitungen finden sich nicht nur in der Haut, sondern auch in Muskeln, Faszien und Gelenken. Zudem wird die Integration ihrer Botschaften durch mentale Prozesse wie Aufmerksamkeit, subjektive Bewertung, persönliche Erinnerungen und Gefühle beeinflusst. Zwischen den Berührungsbotschaften und dem »Autonomen Nervensystem«, das eine Vielzahl von Körperfunktionen – Blutdruck, Herzaktion, Atmung, Darmtätigkeiten – reguliert, besteht ein enger Austausch. Mithilfe von »bildgebenden Verfahren« (CT, MRT, MRI) konnten Untersuchungen der Gehirnfunktionen zeigen, dass eine enge Verbindung zwischen Berührungen und deren Verarbeitung im sogenannten Inselorgan des Gehirns bestehen. Psychosomatische Wechselwirkungen bringen Veränderungen des Körperempfindens, der Spannungen in der Muskulatur, der Körperhaltung sowie der Einstellungen und Erwartungen mit sich. Selbst- und Fremdberührung können wichtige Impulse zum Spannungsausgleich bewirken.

      Im Hinblick auf sinnliche Erfahrungen hat der Psychiater Erwin Strauss die Unterscheidung zwischen deren »pathischen« (griech. »pathos«: Leidenschaft, Erdulden) und »gnostischen« (griech. »gnosis«: Kenntnis, Wissen) Anteilen vorgeschlagen. »Pathisch« ist die unmittelbare, sinnliche Aufnahme von Tönen, Farben, Gerüchen oder Berührungen. »Gnostisch« ist die eher distanzierte Erkenntnis von erlebten Erfahrungen. »Pathisch« erleben wir das, was gegenwärtig geschieht. Dieses ruft, je nach unserer aktuellen Empfangs- und Reaktionsbereitschaft, eine unterschiedliche » Resonanz« in uns hervor. »Gnostisch« richten wir unsere Aufmerksamkeit eher auf die Vergangenheit und Zukunft. Wir überdenken unsere Erfahrungen, geben ihnen Richtungen, Entfernungen oder Stabilität. Es wäre aber falsch, die beiden genannten Zugangswege der sinnlichen Erfahrung strikt zu trennen, denn sie sind unterschiedliche Dimensionen unserer Gesamterfahrung.

       Die Hand: empfangen, begreifen, handeln

      »Mangels anderer Beweise würde mich der Daumen vom Dasein Gottes überzeugen«, sagte der Physiker Isaac Newton. Die Entwicklung der Gegenüberstellung des menschlichen Daumens gegen die Handfläche und Fingerkuppen, die Entwicklung des »Spitz«- oder »Pinzettengriffs« gilt als wichtiger Entwicklungssprung in der Menschwerdung. Es gibt kaum ein differenzierteres und vielgestaltigeres Wahrnehmungsorgan als die Hand. Inklusive Elle und Speiche umfasst die Hand 29 einzelne Knochen. Viele der 33 Muskeln, die unsere Hand bewegen, erstrecken sich vom Unterarm in die Hand hinein. Fast nirgendwo auf der Körperoberfläche hat der Tastsinn ein so hohes Auflösungsvermögen wie im Bereich von Fingern und Hand. Nirgendwo ist die Feinmotorik so genau entwickelt wie in der Präzision von Handbewegungen. In der Hand werden Berührungssinn, Eigenwahrnehmung und Wahrnehmung der Eigenbewegung so zusammengeführt, dass sie eine räumliche Vorstellung der Dreidimensionalität ermöglichen. Die Verbindungen von Hand und Hirn machen diese zu einem »Werkzeug des Geistes« (Marco Wehr/Martin Weimann).

      Der Neurologe Frank Wilson hat facettenreich beschrieben, wie die Hand entscheidend zur Entwicklung des menschlichen Gehirns, der Sprache und der menschlichen Kultur beigetragen hat. Unsere Hände können zart und offen wahrnehmen, spüren und empfangen, aber auch kräftig zupacken und derb austeilen. Sie unterstützen gestenreich unsere Sprache. Viele Alltagsbegriffe nehmen Bezug auf die Hand: behandeln, verhandeln, vorhanden sein, etwas liegt auf der Hand, von der Hand in den Mund, seine Beine in die Hand nehmen, handhaben, begreifen, ergreifen, etwas in Händen halten oder aus der Hand geben, bei der Hand nehmen, kurzerhand, allerhand, alle Hände voll zu tun haben, seine Hände in Unschuld waschen oder seine Hand aufs Herz legen – dies sind nur wenige Beispiele.

      Vom kindlichen Übergangsobjekt des Daumenlutschens über hilfreiche Handreichungen, das handwerkliche Gestalten und Bauen, therapeutische Behandlung bis hin zum Datenhandschuh der virtuellen Realität – überall steht die Hand im Mittelpunkt. Die haptischen Dimensionen des Tastsystems haben im Zusammenhang mit der Entwicklung von Robotern, computeranimierten Berührungen oder Bewegungen auf Distanz heute neues Interesse geweckt.

      Es ist schon erstaunlich, dass Forschungen zeigen, dass die meisten Menschen ihre eigenen Hände auf Fotos nicht wiedererkennen konnten. Vielleicht hilft es, wenn wir unseren Händen öfters ein paar Momente der liebevollen Aufmerksamkeit widmen, sie betrachten, reiben, kneten und bewundern.

       Die embryonale Entwicklung von Haut und Tastsinn

      Jede einzelne Zelle ist dazu in der Lage, physikalische oder chemische Veränderungen an der eigenen Oberfläche zu registrieren und sich durch Eigenbewegungen an diese anzupassen. Der Biologe Gregory Bateson hat poetisch angemerkt, dass jede Zelle mit den anderen Zellen durch Berührungen zusammenarbeite. Man könne fast sagen, dass sie sich umarmen.

      Die biologische Entwicklungsgeschichte (Embryologie) der Haut und des Hautsinnes beginnt mit der Ausbildung der Keimblätter des menschlichen Embryos. Aus der äußeren Haut, dem Ektoderm, entwickelt sich die obere Schicht, die Epidermis. Aus dieser Schicht entwickelt sich auch das Nervengewebe. In einem langen Prozess von Zellwanderungen werden unterschiedliche Fühler (Rezeptoren) für Druck, Wärme und Schmerz sowie das »Jucksystem« in die darunterliegende Schicht des Mesoderms (mittlere Haut) ausgebildet. Im subkutanen Gewebe, der Unterhaut, bilden sich versorgende Blutgefäße und das Fettgewebe zur Flüssigkeits- und Wärmeregulierung.

      Embryologische und Ultraschalluntersuchungen konnten zeigen, dass der nur knapp zweieinhalb Zentimeter große Embryo bereits ab der achten Schwangerschaftswoche mit einer Ganzkörperbewegung auf Berührungsreize in einem Lippenbereich reagiert. Diese Fähigkeit, die noch vor der Ausbildung aller inneren Organe existiert, kann als biologischer Beweis dafür gelten, dass sich das Tastsystem als erstes Wahrnehmungssystem entwickelt und sich frühzeitig enge Verbindungen zwischen Empfinden und Bewegen entwickeln. Bis zur 14. Schwangerschaftswoche dehnt sich diese Berührungssensibilität auf alle Körperregionen des Embryos aus. Ab der 12. bis 13. Schwangerschaftswoche sind bei ihm zielgerichtete Greifbewegungen der sich ausbildenden Hände zu beobachten. Diese Greifbewegungen finden unter Ausschluss jeglicher visueller Information statt.

      Der Berührungsforscher Martin Grunwald hat die Entwicklungsbewegungen und Berührungserfahrungen des Embryos dargestellt (Martin Grunwald, 2017). Er geht davon aus, dass tastbasierte Erfahrungen des Embryos eine basale »neuronale Matrix im Gehirn« bilden. Im mütterlichen Fruchtwasser erfährt sich der bewegende Embryo mithilfe seines Tastsinns als Organismus im Raum und entwickelt ein erstes Körperschema. Berührungen sind eine wichtige Bedingung für zielgerichtete Bewegungen der Körperglieder. Winzige Sensoren in Haut, Muskeln, Sehnen und Gelenken senden auch im Ruhezustand ständig elektrische Impulse aus, die über die Positionen und die Lage der Körperglieder informieren. Berührungserfahrungen können als Bezugspunkte für die anderen Sinnessysteme dienen.

      Die zahlreichen Selbstberührungen des Embryos können als Beruhigungsmöglichkeiten verstanden werden. Vor allem die Mundregion, die besonders dicht mit Tastrezeptoren und Bewegungsmöglichkeiten versehen ist, wird vom wachsenden Embryo betastet und bewegt, auch als Vorbereitung auf die Nahrungsaufnahme nach der Geburt.

      Vor der Geburt bilden Zellen der Haut die sogenannte Käseschmiere, die die Haut des Embryos vor möglichen Schädigungen durch das Fruchtwasser schützt und als Gleitfilm für den Geburtsvorgang dient.

      Nach der Geburt dienen tastende Erforschungen vor allem der Mundregion dem Säugling als Bezugspunkte seiner weiteren Bewegungsentwicklung. Die Berührungen zwischen ihm und der Mutter tragen zur Entwicklung seines psychischen Befindens bei. Aus phänomenologischer Sicht hat der Psychiater Thomas Fuchs darauf verwiesen, dass die Erfahrung des Widerstands in der Berührung hilft, die eigenen körperlichen Grenzen, den Übergang »vom Leib zum Körper«


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