Der eigen-sinnige Mensch - eBook. Helmut Milz
Beginn seiner Arbeit waren für Sigmund Freud therapeutische Berührungen nicht ungewöhnlich. Ende des 19. Jahrhundert galt die »manuelle oder instrumentelle Reflexbehandlung« von »hysterogenen Zonen« als gängige Praxis. 1896 wandte sich Sigmund Freud in einem Brief an seinen Freund Wilhelm Fliess. Dieser hatte als Hals-, Nasen- und Ohren-Spezialist mit seiner »nasogenitalen Reflexneurose« für Aufmerksamkeit gesorgt. In seinem Brief beschrieb Freud die Behandlung einer Patientin, die unter »krampfartigen Brustschmerzen« litt: »Ich habe mir bei ihr eine merkwürdige Therapie erfunden. Dabei suche ich empfindliche Stellen auf, drücke auf diese und provoziere so Schüttelkrämpfe, die sie befreien.«
Bei einer anderen Patientin hatten Freud und sein Kollege Josef Breuer eine »hysterogene Zone« »in einer ziemlich großen, schlecht abgegrenzten Stelle an der Vorderfläche des rechten Oberschenkels« gefunden. Wenn sie die »hyperalgische Haut« (schmerzempfindliche Haut) an dieser Stelle drückten, dann nahm das Gesicht der Patientin einen seltsam schmerz-lustartigen Ausdruck an, ihr Gesicht rötete sich, sie schloss die Augen, warf den Kopf zurück, und ihr Rumpf bog sich rückwärts – was damals ein Hinweis auf einen Anfall von schwerer Hysterie galt.
Peter Gaymann, Wellness Hühner
Freud suchte später für seine Methode einen gänzlich anderen Weg ohne jede körperliche Berührung. Er bevorzugte die indirekte »Berührung durch Worte«. Er beschrieb die »Berührungsangst« als ein Kernelement des neurotischen Verdrängens. Dieses »Tabu« der Berührung erstrecke sich nicht nur auf die direkte Berührung mit dem Körper, dem unmittelbaren leiblichen Kontakt, sondern auch auf das übertragene, gedankliche »in Berührung kommen mit« dem Verbotenen (Sigmund Freud, Totem und Tabu).
Georg Groddeck, einer der Begründer der Psychosomatik, schrieb über seine praktische Arbeit: »Die tiefste Grundlage für ärztliches Handeln (…) ist eine gewisse Übereinstimmung dieser beiden Menschen (Arzt und Patient) auf animalischem Gebiet. Der Ausdruck ›animalisch‹ soll bedeuten, dass dieser wichtigste Faktor der Behandlung zunächst nichts mit dem Wissen und Können des Arztes zu tun hat, sondern aus der Begegnung zweier Menschenwelten, aus ihrer gegenseitigen menschlichen Sympathie und Antipathie entsteht. Es gehört nicht viel Erfahrung dazu, um zu wissen, dass die körperliche Berührung für die Ausbildung dieses Heilfaktors beinahe entscheidend ist.«
Heute haben körperliche Berührungen im Rahmen der psychotherapeutischen Arbeit nur eine marginale Rolle. Durch die Trennung zwischen Psyche und Körper fehlt jegliche körperliche Berührung in der Aus- und Weiterbildung der Psychotherapeuten. Zudem erwarten Patienten in der Psychotherapie ausschließlich ein Reden über ihre Probleme.
Für die psychotherapeutische Arbeit ist einerseits ein Klima von Vertrauen, Geborgenheit und menschlicher Nähe wichtig. Andererseits ist aufgrund von neurotischen Übertragungsphänomenen durch Berührungen die Gefahr von sexuellen Verführungssituationen und Übergriffen vorhanden. Deshalb werden Berührungstechniken in den meisten Psychotherapien nur selten angewandt. Sie werden stattdessen an spezielle Körpertherapeuten delegiert. Der Austausch über die therapeutischen Prozesse ist zwischen den Therapeuten meist schwierig. Mehr als zwanzig Jahre habe ich mit Kollegen unterschiedlicher Richtungen ein internationales Seminar für körperorientierte Psychotherapie, Körpertherapie und Körperkunst, »Leib oder Leben«, organisiert. In meinen Workshops habe ich versucht, Therapeutinnen und Therapeuten in Selbsterfahrungen die möglichen Wirkungen von Berührung und Kontakt »am eigenen Leib« nahezubringen. Die Umsetzung ihrer Erfahrungen in die berufliche Arbeit war für die meisten schwierig.
Händedruck als Kommunikationsmittel
Wir sprechen zwar von einer psychotherapeutischen »Be-Handlung«, aber dies ist ein irreführender Begriff. Hände spielen in der Therapie kaum eine Rolle. Aber die Bewegungen und Positionierung der Hände von PatientInnen, sowie deren wechselnde Spannung oder nervöse Beweglichkeit können subtile Hinweise auf ihr Befinden vermitteln. Sind ihre Hände verkrampft oder offen? Wie häufig und wann werden sie für unbewusste Selbstberührungen genutzt? Sind die Hände und Arme verschränkt oder an den Körper gepresst? Wie viel Bewegungsspielraum ermöglichen sie?
Eine weitgehend unproblematische Berührung in der Psychotherapie ist die Begrüßung durch Handkontakt. Die Art und Weise, wie mir jemand die Hand zum Gruß darreicht, zögernd oder herausfordernd, ob er diese von sich streckt oder zu sich zieht, ob jemand seine Hand fast leblos in meine legt oder sie kraftvoll nach unten drückt – all dies können Botschaften über den aktuellen Zustand und das Anliegen eines Menschen vermitteln. Die Temperatur der Hand, ob kalt oder warm, feucht oder trocken, rau oder zart, ist ein weiteres Signal in der Kommunikation. Auch die Dauer des Handkontakts, schnell und zurückweichend, dauerhaft und klammernd, mit der ganzen Hand oder nur mit wenigen Fingern, gibt mögliche Informationen. All dies kann Hinweise darauf geben, wie man »zueinanderfinden« kann, wie die Bedürfnislage ist, inwieweit man sich vertrauensvoll »in die Hand eines anderen begeben« möchte, ob man »bei der Hand genommen werden« möchte oder »Hand-in-Hand« zusammenarbeiten.
Nachdem sich in der Therapie ein gutes Arbeitsbündnis und eine vertrauensvolle Zusammenarbeit entwickelt haben, können diese Kommunikationsformen bewusst thematisiert und alternative Formen für die Zukunft erprobt werden. Aus dieser Berührung kann eine freundliche Erinnerung für die »Übung« von Veränderungen »im Alltag« werden.
Individuelle Berührungsangst und ihre Auflösung im »Massenkörper«
Der Literaturnobelpreisträger Elias Canetti wurde durch die Nationalsozialisten ins Exil gezwungen. Er widmete sich in seinem Buch Masse und Macht auch der individuellen Berührungsfurcht in unterschiedlichen Kulturen sowie deren paradoxer Auflösung innerhalb von Menschenmassen. »Nichts fürchtet der Mensch mehr als die Berührung durch Unbekanntes. Man will sehen, was nach einem greift, man will es erkennen und zumindest einreihen können. Überall weicht der Mensch der Berührung durch Fremdes aus. (…) Alle Abstände, die die Menschen um sich geschaffen haben, sind von dieser Berührungsfurcht diktiert.« Über die Auflösung dieser Berührungsfurcht schreibt er: »Es ist die Masse allein, in der der Mensch von dieser Berührungsfurcht erlöst werden kann. Sie ist die einzige Situation, in der diese Furcht ins Gegenteil umschlägt. Es ist die dichte Masse, die man dazu braucht, in der Körper an Körper drängt, dicht auch in ihrer seelischen Verfassung, nämlich so, dass man nicht darauf achtet, wer es ist, der einen bedrängt. Sobald man sich der Masse einmal überlassen hat, fürchtet man ihre Berührung nicht. In ihrem idealen Falle sind alle gleich. (…) Es geht dann alles plötzlich wie innerhalb eines Körpers vor sich.«
Die alltägliche Berührung von glatten Oberflächen und Berührungen auf Distanz
Die häufigste berührte Oberfläche ist heute der eindimensionale Touchscreen der Handys und Tablets. Bereits kleine Kinder werden zu diesem Kontakt animiert. Verstärkte Aufmerksamkeit von Forschern und Industrien gilt auch neuen Formen der »Berührung auf Distanz«. Sie suchen nach Möglichkeiten von »vermittelten Berührungen« und untersuchen, wie der Tastsinn – neben Hören und Sehen – stärker »als virtueller Kommunikationskanal« entwickelt werden könne. Technisch gestaltete Oberflächen simulieren bereits heute mithilfe von Datenhandschuhen oder haptischen Datenanzügen »virtuelles Tasten«. Sie vermitteln computeranimierte Berührungseindrücke bis hin zur Illusion des Cybersex.
Ob solche neuen Entwicklungen dem beklagten Berührungshunger der Moderne abhelfen können, scheint zweifelhaft. Sie könnten auch zur weiteren Entfremdung und Verarmung von Berührung führen. Der Medienforscher Marshall McLuhan schrieb: »Jede Erfindung oder Technologie ist einerseits eine Erweiterung von menschlichen Fähigkeiten, aber sie kann auch gleichzeitig als Selbstamputation unserer körperlichen Möglichkeiten verstanden werden.«
Manche Zukunftsszenarien sprechen davon, dass wir bald »intelligente Kleidungen« tragen könnten, die uns, mithilfe von »computer-enabled materials« und multiplen Sensoren über den Zustand unseres Selbst und unserer Umwelt informieren würden. Solche Technofantasien werden sich sicher vermarkten lassen. Aber ob sie auf Dauer zwischenmenschliche Berührungen