Der eigen-sinnige Mensch - eBook. Helmut Milz

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Wir sollten mehr Kontakt erlauben und ermöglichen. Wenn eine Mutter ihr Neugeborenes zum ersten Mal in ihren Armen hält, dann erlebt sie unfassbare Momente des berührenden Glücks. Kinder suchen den kuschelnden Kontakt und wollen gestreichelt werden. Intuitiv reibt jeder als Erstes die schmerzhafte Stelle, an der man sich angestoßen hat, mit den eigenen Händen. Die nackte Haut zweier Liebender vereint ganze Kontinente. Wenn sich ernsthafte Schwierigkeiten in einer Partnerschaft auf Dauer nicht lösen lassen, dann signalisieren neurodermitische Hautausschläge manchmal stellvertretend die Ablehnung jedes weiteren Kontakts. Erst wenn man die Wohltaten von Berührung und Nähe gespürt hat, kann man sich umso besser seiner Haut wehren. Es gibt kein Medikament, das in traurigen Momenten des Abschieds so trösten kann, wie die liebevolle Umarmung eines nahestehenden Menschen – auch ohne Worte.

       SCHMECKEN –

       Was auf der Zunge liegt

       Wollt ihr das Volk bessern, so gebt ihm (…) bessere Speisen. (Denn:) Der Mensch ist, was er isst.

       Ludwig Feuerbach

      Meine »Geschmacksgeschichte« beginnt am Übergang der Nachkriegsjahre in die Zeiten des »Wirtschaftswunders«. Diese Jahre waren für mich sowohl ein »selbstversorgender Garten auf dem Lande« als auch Beobachtungen einer Konjunktur »nachholenden Heißhungers« der Erwachsenen. Ihr »kollektives Gedächtnis« war noch geprägt von Krisenzeiten, in denen für die Mehrheit der Bevölkerung ein »Notwendigkeitsgeschmack« (Pierre Bourdieu) geherrscht hatte – meist minderwertiges Essen, in der Sorge um ausreichende »Fülle«. In den 50er- und 60er-Jahren sollte deshalb vieles demonstrativ »nachgeholt« werden.

      In meiner Heimat hatten wir das Glück eines eigenen Gartens mit Gemüse und Obstbäumen. Für den Winter wurde Obst auf Vorrat eingemacht und Marmelade eingekocht. Meine Großmutter hielt Hühner, die für frische Eier sorgten und bisweilen eine herrliche Suppe hergaben. In der Nähe gab es eine Molkerei, in der man Milch, Butter und Quark kaufen konnte. Fleisch gab es seltener, und freitags wurde in der traditionell katholischen Familie nur Fisch gegessen. Süßigkeiten waren selten. In der vorösterlichen Fastenzeit mussten wir diese in einem Glas sichtbar aufheben, ohne daran zu naschen.

      Ich erinnere mich gut an die gedeckten Tafeln der Familienfeste. Mittags gab es Braten mit Kartoffeln und dicken Soßen. Anschließend tranken die Erwachsenen »echten Bohnenkaffee« mit Kondensmilch. Dazu wurden selbst gemachte Buttercreme- und Schwarzwälder-Kirschtorten sowie Frankfurter Kranz serviert. »Gute Butter«, Mayonnaise, Russische Eier, Schinkenröllchen mit Dosenspargel sowie Dosenananas gehörten zu den besonderen Köstlichkeiten dieser Zeit.

      Für uns Kinder wurde manchmal durchsichtiger Wackelpudding mit Vanillesoße gereicht, der damals als »Götterspeise« angepriesen wurde (sicher nicht in Erinnerung an die »Ambrosia« der griechischen Götter, die angeblich unsterblich machen sollte).

      Nach dem Krieg galten süßes, fettes und fleischhaltiges Essen als kulinarische Höhepunkte eines neuen »Prinzips Hoffnung«. Für uns Kinder hieß es, »alles zu essen, was auf den Tisch kommt« und den Teller immer »leer« zu essen. Wem dies schwerfiel, der wurde an das Schicksal der hungernden Kinder in Afrika gemahnt. Beliebt war damals die Geschichte vom »Suppenkasper«. Wer seine Suppe nicht aufisst, so zeigte der Suppenkasper, konnte rasch abmagern, und schon nach fünf Tagen drohte ihm möglicherweise der Tod. Erst viel später habe ich erfahren, dass diese Geschichte 1844 vom Frankfurter Armenarzt und Psychiater Heinrich Hoffmann, als »selbst erfundene Weihnachtsgeschichte«, für seinen dreijährigen Sohn Carl-Philipp verfasst wurde. Die Geschichten vom Struwwelpeter wurden später als »lustige Geschichten und drollige Bilder der Kinder von drei bis sechs Jahren« veröffentlicht. Heute scheinen sie eher eine Form von schwarzer Pädagogik zu sein.

      Besondere »Köstlichkeiten« meiner Kindheit waren fettige belgische Fritten und rheinische Reibekuchen. Meine Oma hatte die liebenswürdige Gepflogenheit, die Teller der Kinder immer besonders voll zu machen. Zum Glück war ich während dieser Zeit viel draußen und ein begeisterter Sportler. Dadurch blieb mir ein drohendes Übergewicht erspart.

      Die Vorliebe für süßes, fettes und gut gesalzenes Essen änderte sich, als Rundfunk und Fernsehen auf dessen Schädlichkeit »für das Herz« hinwiesen. Anfangs nahm man das Ganze noch nicht ernst. Man begann aber, trockene Weine zu bevorzugen und achtete mehr darauf, keinen »Bierbauch« zu haben. Maßhalten und eine gute Figur wurden wichtig.

      Während meines Medizinstudiums habe ich mir erstes Wissen über Anatomie, Physiologie, Biochemie und Pathologie der Nahrungsaufnahme und Verdauung sowie Grundzüge von gesunden Ernährungsweisen aneignen können. Dieses Wissen ging kaum über Nährwert- und Kalorienberechnungen oder grobe Orientierungen für »gesündere« Ernährung hinaus.

      In den 70er-Jahren tauchte die »Umweltfrage« auf und mit ihr Debatten über die Bedeutung von Bio- und Öko-Qualitäten. Schließlich wurde ich selbst Vater, und wir achteten genauer auf die Zusammensetzung der Babynahrung. Diskussionen um mögliche Folgen von industrieller Brot- und Nahrungsmittelproduktion, Zusatzstoffe, eine Begrenzung des Fleischkonsums und den Verzehr von mehr Gemüse fanden Eingang in die breitere Öffentlichkeit.

      Inzwischen wird insgesamt mehr Wert auf einen bewussteren Umgang mit Nahrungsmitteln gelegt. Ein kritisches Bewusstsein für die Bedeutung von Ernährung, geschweige denn vom Genuss des Essens bleiben jedoch Stiefkinder der modernen Medizin. Diese Fragen werden gerne an andere Berufsgruppen delegiert. In meiner psychotherapeutischen Arbeit insbesondere mit Ärzten bin ich immer wieder erstaunt, wie schlecht diese sich selber täglich behandeln, etwa dann, wenn es um ihre geregelten Pausen für Mahlzeiten geht.

       Der Geschmackssinn in philosophischer Hinsicht

      In der westlichen Tradition der Philosophie galt der Geschmackssinn über zwei Jahrtausende als »niedrig« in der Hierarchie der Sinne. Aufgrund seiner Nähe zu den animalischen Fressinstinkten stand er unter Verdacht. Appetit wurde in der Nähe der Tiere angesiedelt, und immer drohte die »Völlerei« als Feind des Denkens. Die Subjektivität des Geschmacks erschien den Philosophen für den objektiven Erkenntnisgewinn, den der Mensch anzustreben habe, als wenig erfolgversprechend. Der denkende Mann war mit der Vernunft beschäftigt, Essen und Kochen waren dagegen Frauensache.

      Eine frühe und oft geschmähte Ausnahme bildeten im 3. Jahrhundert v. Chr. der Philosoph Epikur von Samos und seine Schule. Er stellte sich polarisierend gegen die herrschende Stoa und Platon und sah in der Lust, als Abwesenheit von körperlichen Schmerzen und seelischer Unruhe, ein vom Menschen anzustrebendes »höchstes Gut«. Dabei ging es ihm nicht um Gelüste und Ausschweifungen, sondern vielmehr darum, wie die natürlichen Grundbedürfnisse nach Essen und Trinken gut befriedigt werden können. In Bezug auf die sozialen Freuden des Essens schrieb er: »Du sollst mehr Umsicht darauf verwenden, mit wem du isst und trinkst als darauf, was du isst und trinkst, denn Nahrungszufuhr ohne einen Freund ist das Leben eines Löwen und eines Wolfs.« Im Hinblick auf exotische Nahrungsmittel und regionale Produkte merkte er an:»Man sollte nicht aus Gier nach fernen Gütern die nahen gering achten, sondern bedenken, dass auch diese einmal zu den sehnlich erwünschten gehört haben.«

      1850 schrieb der Philosoph und Anthropologe Ludwig Feuerbach noch in den Nachwehen der März-Revolution von 1848 den sozialkritisch gemeinten Satz: »Wollt ihr das Volk bessern, so gebt ihm (…) bessere Speisen. (Denn:) Der Mensch ist, was er isst.« Feuerbach setzte sich vehement für eine »neue Philosophie« ein, die die Wahrheit der Sinnlichkeit »mit Freuden und mit Bewusstsein« anerkennen sollte. Er wehrte sich gegen die philosophische Konstruktion eines Gegensatzes von Vernunft und Sinnlichkeit. Je nach Situation konnte diese Sinnlichkeit, ähnlich wie bei Epikur, im Wein und im Wasser, in Gänseleberpastete, Gerstenklößen oder der »schwarzen Suppe der spartanischen Enthaltsamkeit« gefunden werden. Auch das »trockene Brot der Pflicht« könne zum Leckerbissen werden, wenn man hungrig genug sei. Feuerbach sah in der Ernährung den Anfang aller Existenz und in der Nahrung den Anfang aller Weisheit. »Anfang und Wurzel alles Guten ist die Freude des Magens; selbst Weisheit und alles, was noch über sie hinausgeht, steht in Beziehung zur Freude des Magens.« Er sah in der umgebenden Natur, die wir uns einverleiben müssen, ein »zweites, umweltleibliches Ich«, das es zu achten,


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