Der eigen-sinnige Mensch - eBook. Helmut Milz

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      Die vier klassischen Geschmacksrichtungen auf der Zunge, kartiert von D. P. Hänig (1901).

      Die Signale der Geschmacksrezeptoren werden danach in Umschaltstationen einerseits zum Brückenhirn und zu Strukturen weitergeleitet, wo sie automatische, weitgehend unbewusste Gefühlsregungen auslösen. Der andere Teil der Informationen wird über die Hirnstrukturen des Thalamus und der Inselregion zum Großhirn fortgeleitet. Dort provozieren sie bewusstseinsfähige Qualitäten von Aufmerksamkeit und Bewertung, Erfahrungen von Belohnungen und Entscheidungsmöglichkeiten. Von der Wahrnehmung bis zur Bewertung des Geschmacks laufen in Sekundenbruchteilen komplexe physiologische und biochemische Prozesse ab.

      Seit einigen Jahren ist der japanische Begriff »Umami« hinzugekommen. Dieser bedeutet so viel wie »schmackhaft, würzig oder wohlschmeckend«. Umami wurde als Geschmacksrichtung Anfang des 20. Jahrhunderts vom japanischen Physiologen Kikonae Ikeda entdeckt. Sie ist mit einem süßlichen Geschmack verwandt und bezieht sich im Wesentlichen auf Glutaminsäure. Als Geschmack dominiert Umami in Lebensmitteln wie reifen Tomaten, manchen Fleisch- und Pilzsorten, in ausgereiften Käsesorten wie Parmesan, in Sojasoße, Hefeextrakten oder in Geschmacksverstärkern wie »Maggi«. Manche Forscher gehen davon aus, dass Umami ein wesentlicher Bestandteil des Geschmacks von Muttermilch ist. Inzwischen wurde zudem festgestellt, dass alle Geschmacksknospen sich in ihren Wahrnehmungen austauschen können.

      In den letzten 25 Jahren hat sich die Geschmacksforschung enorm weiterentwickelt. Dies hängt mit dem großen Interesse der Nahrungsmittelindustrie zusammen. Dadurch, dass wir die Nahrung erst mechanisch mit Zunge und Gaumen im Mund berühren und erkunden, dominiert subjektiv die Geschmacksempfindung als im Mund befindlich. In der deutschen Sprache verwenden wir meist nur einen Begriff für Geschmack. In der Forschungswelt hat sich inzwischen eine Zweiteilung des Geschmacks in »taste« und »flavour« eingebürgert. Der Begriff »taste« leitet sich vom lateinischen »taxare« ab. Er nimmt Bezug auf »berühren und prüfend bewerten«. Hierauf weisen auch die deutschen Begriffe »schmecken, kosten oder probieren« hin. Der zweite Geschmacksbegriff »flavour« leitet sich vom lateinischen Wort »flatus« (blasen) ab. Es deutet auf Empfindungen des Geschmacks hin, die mit dem Geruch in Verbindung stehen. Heute wird »flavour« als Gesamteindruck oder Geschmacksgestalt gesehen. Im Englischen wird »flavour« mit Begriffen wie Atmosphäre, Gefühl, Charakter, Ausstrahlung, Neuigkeit, Mode und manchmal auch Illusion verbunden. Diese Assoziationen haben besondere Bedeutung für Nahrungsmittelaromen.

      Der Geschmackssinn wird inzwischen als »gustatorisches System«, (lat. »gustus«, Geschmack) bezeichnet. Man geht von einer »multisensorischen Wahrnehmung« aus, bei der sich unterschiedliche Sinne in einem Geschmacksgemisch verbinden. Dazu gehören mechanische und Wärmereize im Mundbereich, die die Konsistenz, Feuchtigkeit, Flüssigkeit oder Temperatur der Nahrung prüfen, sowie »zusammenziehende« Reize bis hin zu möglichen Schmerzreizen. Diese Empfindungen werden unter dem Begriff »mouthfeel« (Mundgefühl) zusammengefasst. Hinzu kommen Geruchswahrnehmungen der Aromastoffe der Nahrung. Diese werden vor der Nahrungsaufnahme durch die Nase und nach der Nahrungsaufnahme durch Duftstoffe im Gaumen-Nasen-Bereich aufgenommen. Jeder kennt den Rückgang des Geschmacksempfindens bei einer verstopften Nase. Riechen hat eine Schlüsselrolle beim Geschmack. Allerdings sind dem Geschmacksforscher Charles Spence zufolge die in diesem Zusammenhang genannten Prozentwerte von 80 bis 90 Prozent Geruchsanteil fraglich.

      Hinsichtlich des Einflusses der Farben von Nahrungsmitteln auf den Geschmack scheint eine automatische Bewertung zu bestehen. Das Auge isst mit. Rot wird mit Reife und Süße in Verbindung gebracht, Gelb mit sauren und Grün mit bitteren Eigenschaften. Diese »synästhetischen Qualitäten« (griech. »synasthanomai«, mitempfinden, zugleich wahrnehmen) der Farben werden meist unbewusst hergestellt. Wie stark der Seheindruck ist, darauf hat eine Studie von französischen Weinexperten hingewiesen. Dabei wurde fünfzig Probanden erst ein Weißwein und dann ein Rotwein zur Testung vorgelegt. Sie umschrieben ihre jeweiligen Geschmacksempfindungen mit »fruchtig, lycheeartig, zitronig« für die Weißweine beziehungsweise »schokoladig, beerenartig oder rauchig« für die Rotweine. Das dritte Glas, das ihnen zum Test gegeben wurde, war wieder Weißwein, aber diesmal mit einem neutralen Farbstoff in die Rotweinfarbe umgefärbt. Überraschenderweise wählten die meisten Testpersonen auch diesmal ihre früheren geschmacklichen Charakteristika für die Rotweine (Gil Morot).

      Zunehmend wird auch den beim Essen auftretenden Geräuschen Beachtung geschenkt. Sie gelten weitgehend als »vergessener Teil des Geschmackssinns«. Sie werden seit einigen Jahren unter Mithilfe der Neurowissenschaften und Psychophysik untersucht. Vor allen Dingen »knusprige«, »knackige«, »krosse« oder »sprudelnde« Geräuschempfindungen werden mit »Frische« verbunden. Der »Biss« der Nahrung, ihre wahrgenommene Konsistenz, ihre Feuchtigkeit oder Trockenheit werden von Geräuschwahrnehmungen begleitet. Seit Beginn des 21. Jahrhunderts hat sich eine interdisziplinäre Forschung entwickelt, die sich Gastrophysik nennt.

      Während die Prüfungen der evolutionären Geschmackssinne in fortgeschrittenen Zivilisationen weitgehend durch staatliche Lebensmittelkontrollen von schädlichen oder giftigen Substanzen ersetzt worden ist und der Bereich der Geschmackswahrnehmung für subtilere Verführungstechniken der Nahrungsmittelindustrie benutzt wird, bleiben weltweit weiterhin etwa eine Milliarde Menschen starken Nahrungsmittelunsicherheiten und Gefährdungen ausgesetzt. Für sie sind ihre Geschmackssinne immer noch von überlebensnotwendiger Bedeutung.

       Ökologische und kulturelle Beeinflussungen des Geschmacks

      Neben der für alle biologisch gleichen Ausrüstung des »gustatorischen Systems« wird der Geschmackssinn von vielen Faktoren beeinflusst. Die »ökologische Nische«, in der Menschen aufwachsen, das Klima und die darin wachsenden Nahrungsmittel sowie die soziale Situation nehmen erheblichen Einfluss. Im Rahmen des »epigenetischen Geschehens« als der generationenübergreifenden Weitergabe von genetischen Informationen der Menschen wird davon ausgegangen, dass Geschmacksrezeptoren in den Regionen dieser Welt unterschiedlich strukturiert sein können. Dies bedeutet, dass das Empfinden von Geschmacksqualitäten sich regional sehr unterscheiden kann. Hinzu kommt, dass die kulturelle Art der Nahrungszubereitung großen Einfluss hat. Geschmack ist erlernt und verbunden mit Vorlieben, persönlichen Erinnerungen, Bewertungen und Erwartungshaltungen. Ähnlich wie die Sexualität bezieht auch das Essen alle Sinne mit ein. Dementsprechend lässt sich der Geschmackssinn leicht verführen. Bekanntlich geht »Liebe durch den Magen«.

      Die Nahrungsmittelindustrie hat dieses Verführungspotenzial in den letzten Jahren intensiv untersucht und genutzt. Dies beginnt bei der Verpackung der Nahrungsmittel. Dabei spielt die demonstrative Verwendung von Begriffen wie »frisch« und »Energie spendend« eine prominente Rolle. Das »sensorische Marketing« setzt gezielt auf Farben, Formen und Geräusche und adressiert die sinnenübergreifenden Interaktionen. Werbung spricht den »visuellen Hunger« durch die optische Präsentation von Gerichten auf der Verpackung gezielt an. Das Ganze wird multimedial verbunden mit Kochshows, Foodblogs und raffinierten Kochbüchern. In der Umgangssprache ist von »Foodporn« oder »Gastroporn« die Rede, in denen die virtuelle Darstellung von Nahrungsmitteln stellvertretend zur Völlerei einlädt und manchem »das Wasser im Mund« zusammenläuft. Untersuchungen zeigen, dass Übergewichtige oder Menschen, die unter Bulimie und Heißhunger leiden, deutlich stärker auf diese Werbung reagieren.

      Eine besondere Rolle nehmen die aromatischen Zusatzstoffe ein. Zu Beginn waren die meisten Aromen natürliche Stoffe. Diese natürlichen Stoffe sind jedoch teuer und wenig haltbar. Deshalb galt seit dem Ende des 19. Jahrhunderts ein besonderes Interesse in der chemischen Forschung der Frage, wie man aromatische Geruchsstoffe synthetisch herstellen kann. Bereits 1874 wurde Vanillin synthetisiert. Heute ist dieses weltweit der populärste Aromastoff. Es gibt prinzipiell keine molekularen Unterschiede zwischen dem Naturprodukt Vanille und dem synthetischen Vanillin. Insgesamt ist die Menge der Aromastoffe, die verarbeiteten Nahrungsmitteln zugesetzt wirde, relativ gering. In den meisten Fällen sind sie für die Gesundheit unbedenklich. Heute werden etwa der Hälfte aller Lebensmittel Aromastoffe zugesetzt. Etwa 3000 Stoffe zur Aromaherstellung sind bekannt. Dabei werden zusehends mehr exotische Aromastoffe entwickelt und mit wohlklingenden Pflanzennamen versehen. In dieser Hinsicht ist »flavour« auch ein kognitiver Bewertungsmechanismus. In gewisser Weise kann man sagen,


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