Der eigen-sinnige Mensch - eBook. Helmut Milz
hab ich doch nicht riechen können«, will sagen: nicht ahnen können – Riechen wird mit etwas in Verbindung gebracht, das mich plötzlich anfliegt, vermuten, vorhersehen, wähnen, wittern, befürchten oder argwöhnen lässt. Manchen Menschen wird »ein guter Riecher« nachgesagt, besonders dann, wenn ihre Vermutungen sich bewahrheiten.
Bereits nach dem Aufstehen, wenn wir noch nicht ganz wach sind, beginnt die alltägliche Offensive von Aromastoffen und Geruchsverstärkern, um uns mit angenehmem Geruch und Geschmack zu beglücken. Mithilfe von Zahnpasta, Seife, Rasierschaum, Shampoo, Deo (lat. »desodorant«, Entriecher) und Gesichtscreme rücken wir unseren Eigengerüchen der Nacht auf den Leib. Frisch gewaschen, beduftet mit Menthol, Limette, Olive, Iris, Alkoholextrakten usw. starten wir in den neuen Tag. Auch die Wäsche ist sauber und dezent mit Duftstoffen versetzt, damit man den aufdringlichen Geruch der in Waschmitteln verwendeten Tenside (seifenähnliche Substanzen aus tierischen Fettsäuren) nicht riecht. Schließlich duftet der Kaffee. Wer weiß schon, dass sich dessen Duft aus ca. 800 Aromen zusammensetzt? Je nach Anbaugebiet und Röstverfahren repräsentiert Kaffee eine breite Duftpalette.
Auf dem Weg zur Arbeit mischen sich unsere Düfte mit denen unserer Umgebung und Mitmenschen. Mit jedem unserer täglich etwa 23 000 Atemzüge nehmen wir Duftbotschaften auf und geben solche ab. Unser Geruchssinn hilft uns, uns in der Welt der chemischen Reize zurechtzufinden. Wir können mit seiner Hilfe Gefahrenquellen in der Luft wahrnehmen (giftige Gase usw.), und er bietet uns Schutz vor verdorbenen Lebensmitteln.
Individuelle Geruchsgeschichten
Jeder von uns hat seinen ganz persönlichen Geruch und seine eigene »Geruchsgeschichte«. Viele Gerüche bleiben uns unbewusst in Erinnerung. Ich erinnere mich zum Beispiel lebhaft an die Intensität des Weihrauchs während meiner Messdienerzeit oder an den Holzgeruch frisch geschnittener Bretter im benachbarten Sägewerk. Der penetrante ölige Gestank von Carbolineum, das in der Nachkriegszeit zur Pflege der Holzbohlen meiner Volksschule verwendet wurde, holte mich viele Jahre später in den Baracken der DDR-Grenzkontrollen wieder ein. In Erinnerung geblieben sind intime Gerüche aus Liebesnächten, der wunderbare Geruch der Haare und Köpfe meiner Kinder als Babys, die Ausdünstungen von voll geschissenen Windeln und frisch gecremten Kinderpopos. Später, in der Pubertät, hinterließen die Kinder öfters memorable Schwaden von Deodorants vor ihren Partybesuchen.
Reisen in fremde Länder hinterließen exotische Geruchsspuren. Lavendelduft der Provence, Oleander, Orangenduft und Gewürzsträucher im griechischen Frühling, der Geruch von Curry und Patchuli in Indien, frische Baguettes in Frankreich oder der Duft von riesigen Schinken, die in toskanischen Metzgereien zum Trocknen aufgehängt waren, sind nur einige Beispiele. Wenn ich Blätter vom Oreganostrauch im Garten zwischen meinen Fingern zerreibe, dann ruft deren Duft in mir unmittelbar Bilder von Spaziergängen auf den Hügeln von Kreta hervor.
Aus den Jahren meiner Arbeit in Krankenhäusern bleiben Geruchserinnerungen an viele Liter von Händedesinfektionsmitteln sowie an das liebevoll verteilte Rosenöldestillat, das viele ältere türkische Patientinnen mir auf die Hände tropften, bevor ich sie untersuchen durfte. Nicht zuletzt erinnere ich mich an die fauligen Gerüche der bakterieninfizierter Wunden beim Verbandswechsel oder an den Geruch von Blut und Fruchtwasser während der Zeiten im Kreißsaal. In den vielen Tausenden von Therapiesitzungen umgaben mich Parfümdüfte und Deodorants meiner PatientInnen ebenso wie häufig der Geruch von Angstschweiß und anderen Körpergerüche.
Philosophische Überlegungen zum Geruchssinn
Dem Geruchssinn wird in der klassischen Philosophie nur ein geringes Maß an erkenntnisfördernder Intelligenz zugesprochen. Immanuel Kant stufte ihn als den entbehrlichsten Sinn des Menschen ein. Es gab unter den Philosophen auch Fürsprecher für den Geruchssinn. So notierte Arthur Schopenhauer: »Wie wir im Gesicht den Sinn des Verstandes, im Gehör den der Vernunft erkannt haben, so könnte man den Geruch den Sinn des Gedächtnisses nennen, weil er unmittelbarer als irgendetwas anderes den spezifischen Eindruck eines Vorganges, oder einer Umgebung, selbst aus der fernsten Vergangenheit, uns zurückruft.«
Geradezu ein Verfechter des Riechens war Friedrich Nietzsche. Er schrieb, dass sich »all sein Genie in seinen Nüstern befinde«. An anderer Stelle merkte er an: »Diese Nase zum Beispiel, von der noch kein Philosoph voll Verehrung und Dankbarkeit gesprochen hat, ist sogar einstweilen das delikateste Instrument, das uns zu Gebote steht.« Nietzsche betonte die Verbindung von feiner Nase, Scharfsinn und intuitivem Wittern, die es ermöglicht, »das Innerlichste – die Eingeweide jeder Seele physiologisch wahrzunehmen«. Jean-Paul Sartre meinte: »Der Geruch eines Körpers, das ist der Körper selbst, den wir durch Mund und Nase einatmen, den wir mit einem Male in Besitz nehmen, in seiner geheimsten Substanz. Der Geruch in mir, das ist die Verschmelzung des Körpers des anderen mit meinem Körper. Aber es ist dieser eingefleischte, vaporisierte Körper, der zu Geist verflüchtigt ist.«
Der Dichter Baudelaire hat poetisch vom Geruchssinn als »Sinn der zärtlichen Erinnerung« gesprochen. Die Anthropologin Annick Le Guérer betonte: »Als Sinn der Wahrheit entthront der Geruchssinn die ›kalte Logik‹, da er aus den sicheren Quellen des animalischen Instinkts schöpft, der dem Leib seine große Weisheit verleiht.«
Kulturelle und soziale Schranken des Geruchs
Die Kulturwissenschaftlerin Diane Ackerman bezeichnete den Geruchssinn als »stummen Sinn« und die blinde Schriftstellerin Helen Keller sprach vom »gefallenen Engel der Sinne«. Im modernen Westen sei der Geruch eher ein »Non-Sense«, ein »sinnliches, schwarzes Schaf«, so die Anthropologin Constance Classen. »Ein Mensch mit besonders feiner Nase erfährt durch diese Verfeinerung sicher sehr viel mehr Unannehmlichkeitez als Freuden«, schrieb der Soziologe Georg Simmel.
Nach der von Hippokrates begründeten »Miasmen-Theorie« wurden Krankheiten durch Fäulniserreger in Luft und Wasser übertragen. Der Geruchssinn (wissenschaftlich »olfaktorischer Sinn«, lat. »olfactus, das Riechen) erfuhr historisch kontroverse Bewertungen. Dementsprechend zog der Medizinhistoriker Jonathan Reinarz nach seinen Studien den Schluss, dass der Geruch durch eine klare Trennung in »gut« und »schlecht« charakterisiert werde. Ähnliches hat der französische Historiker Alain Corbin in seinem Buch Pesthauch und Blütenduft betont.
Die Polarisierungen des Geruchs verlaufen entlang mehrerer Trennungslinien:
- zwischen religiösen Glaubensgemeinschaften und Ungläubigen
- zwischen Männern und Frauen
- zwischen unterschiedlichen Kulturen und sozialen Schichten.
Den »Wohlgerüchen« von Priestern und Gläubigen, die duftende Rauchopfer zum Himmel sandten, wurde »der Gestank« von Hölle und Ungläubigen gegenübergestellt.
Während Männer scheinbar kräftig und potent rochen, sollten Frauen sich während der »unreinen« Menstruation verbergen. Andere wurden als »stinkende« Hexen und Huren (lat. »putidus«, altfranz. »pute«, stinkend) gebrandmarkt. Heute unterscheiden sich die »verführerischen Düfte« weiblicher Parfüms von »herb männlichen Duftnoten«. Durch zeitgenössische Verschiebungen von Geschlechterbildern ergeben sich inzwischen jedoch mehr Überschneidungen.
Kulturell und sozial wurden Fremde häufig als schlecht riechend eingestuft, nicht nur wegen ihrer ungewohnten Ernährungsgewohnheiten, sondern auch aus Angst vor möglicher Ansteckung. Solche Ängste finden sich in allen Kulturen.
Machtunterschiede zwischen der parfümierten Herrschaftsschicht und den Gerüchen des niederen Volks bildeten eine weitere Trennungslinie. Infolge der städtischen Hygienereformen des 19. Jahrhunderts wurden »Ausdünstungen der Armut« neben der Betonung von krankheitserregenden Gefahren, immer auch moralisch bewertet. Heute kann man zudem eine »Geruchsgeografie« von städtischen Zonen entlang der Luftqualität in Industrievierteln, städtischen Ballungszentren, öffentlichen Parkanlagen und sozialen Milieus feststellen.
Geruchslandschaften
In den letzten dreißig Jahren hat der Geruchssinn deutlich mehr Aufmerksamkeit erfahren. Durch veränderte technische Möglichkeiten sind neue wissenschaftliche Untersuchungen dieses »chemischen Sinns«