Der eigen-sinnige Mensch - eBook. Helmut Milz

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Nahrung, die Erkennung und Vermeidung von Umweltgefahren aus der Luft und die soziale Kommunikation.

      Wir beschnuppern Speisen und deren Düfte sowohl mit Nase als auch durch den Gaumen. Ihr Geruch beeinflusst unseren Hunger und unseren Appetit. Grundlegende individuelle Geruchserfahrungen erfolgen bereits intrauterin, und der Geruch der Mutterbrust ist für Säuglinge von großer Bedeutung. Was wir schmecken wird zum großen Teil bestimmt durch das, was wir riechen.

      Gerüche der Umwelt können durch Bakterien aller Art sowie durch schlechte Luft, Feuer und Rauch, Gifte oder Chemikalien verursacht sein. Andererseits adaptieren wir uns rasch durch wiederholte Exposition an Gerüche. Solche Effekte können schon in wenigen Minuten eintreten. »Ein Geruch, der über längere Zeit unverändert bleibt, wird meist ausgeblendet«, so der Dresdener Geruchsforscher Thomas Hummel.

      Im sozialen Austausch von Sympathie oder Antipathie, insbesondere bei sexueller Anziehung, aber auch bei Ausdünstungen durch Krankheiten, spielt das Riechen eine wichtige Rolle. In der Kommunikation mit anderen Menschen kann deren Gesichtsausdruck Einfluss nehmen darauf, welchen Geruch wir verstärkt wahrnehmen und wie wir diesen bewerten.

      Im höheren Alter nehmen Riechstörungen (»Anosmien«) und die damit einhergehenden gesundheitlichen Einschränkungen deutlich zu. Die durch sie bewirkten Beeinträchtigungen der Lebensqualität sind weit verbreitet. Zudem können Riechstörungen erste Hinweise auf neurodegenerative Erkrankungen wie Morbus Parkinson oder Morbus Alzheimer geben. Ob und wie Riechstörungen durch Training teilweise behoben werden können, wird weiter erforscht.

      Durch ihre besonderen neurobiologischen Vernetzungen prägen Gerüche mehr als die anderen Sinne das Gedächtnis. Dies kann zwar stabilisierende, positive Assoziationen bewirken, aber auch die gezielte Beeinflussung von Umwelt, Märkten und Vorlieben ermöglichen, die manipulativ genutzt werden können. In der Wissenschaft spricht man vom »chemical signaling« und von Botenstoffen, die unser zwischenmenschliches Miteinander beeinflussen.

      Der Soziologe Georg Simmel hat zu Beginn des 20. Jahrhunderts angemerkt, dass die soziale Frage nicht nur eine ethische, sondern auch eine »Nasenfrage« sei. Er bezeichnete den Geruchssinn als »dissoziierenden Sinn«, der wesentlich für die Distanziertheit des Großstadtmenschen verantwortlich sei. »Dass wir die Atmosphäre jemandes riechen, ist die intimste Wahrnehmung seiner; er dringt sozusagen in luftförmiger Gestalt in unser Innerstes ein, und es liegt auf der Hand, dass bei gesteigerter Reizbarkeit gegen Geruchseindrücke überhaupt dies zu einer Auswahl und einem Distanznehmen führen muss, das gewissermaßen eine der sinnlichen Grundlagen für die soziologische Reserve des modernen Individuums bildet.«

      Heute stellen Gerüche und die Luftqualität der Umwelt, die Industrie- und Autoabgase in den Städten sowie der Anstieg des geruchlosen Ozons erhebliche gesundheitliche Gefährdungen dar. Um unangenehmen Gerüche zu neutralisieren oder zu verdrängen, haben manche Städte partielle »Beduftungsprogramme« an öffentlichen Plätzen oder in U-Bahnhöfen installiert. Kaufhäuser und Supermärkte, Möbelhäuser und Autofabrikanten, Hotelketten und Wellnesstempel setzen auf die Verwendung von Wohlgerüchen, als Mittel der sinnlichen Anziehung oder als merkantiles »corporate smell«.

      Der Geruchssinn befindet sich an einer wichtigen Schnittstelle zwischen Ernährung und Umwelt sowie großen Märkten der Nahrungsmittel-, Geruchs- und Wohlfühlindustrien. Neue Forschungsergebnisse zum Geruchssinn sind nicht nur für die Gesundheit und zur Steigerung des Wohlbefindens von großem Interesse, sondern auch für neue ökonomische Marketingstrategien. Bedingt durch die Suche nach militärisch nutzbaren »Duftdetektoren«, etwa zum Aufspüren von Sprengstoff und Minen, fließen aus dem Militärhaushalt nicht unerhebliche finanzielle Mittel in die Geruchsforschung.

      Gerüche sind in der modernen Welt des digitalen Jetzt nicht präsent. Immer werden »persönliche« Gerüche und Aromen künstlich synthetisiert. Diese Gerüche sind in ihren Zusammensetzungen im Vergleich mit natürlichen Düften »verarmt« und zugleich verstärkt in ihren gezielten Wirkabsichten. Sie werden in der Werbung mit Symbolen von »Magie, Stärke, sexueller Attraktivität oder heilenden Wirkungen« aufgeladen.

       Nase und Geruch in alltäglichen Redewendungen

      Das Wort »Duft« stammt vom althochdeutschen »tuft«, was so viel wie »Dunst, Nebel, Tau, Reif« bedeutete. »Geruch« leitet sich vom mittelhochdeutschen »ruch« ab, das »Dampf, Dunst, Rauch« besagte. »Riechen« wurde früher oft mit dem Wort »smac«, »schmecken, verdrängen« gleichgesetzt. Heute verwenden wir zudem Begriffe wie Atmosphäre, Aroma (griech. Wohlriechendes Kraut, Gewürz), Bouquet, Wohlgeruch, Ausstrahlung, Air, Smell, Odeur, Flair oder Fluidum.

      Die Nase liegt, prominent hervorragend, mitten im Gesicht. Vorwärts gehtʼs, geradeaus, »immer der Nase nach«. Bei manchen Entscheidungen helfen uns ein »feines Näschen« und ein »guter Riecher«. Wir sprechen davon, dass sich mancher eine »goldene Nase« verdient, während andere etwas kränkeln und »blass um die Nase« sind.

      Eine »Spürnase« kann Entwicklungen schon »drei Meilen gegen den Wind« riechen, bei Gefahr riecht man »Lunte«. Ehrgeizig strebt man danach, »eine Nasenlänge voraus zu sein« und die »Nase vorn zu haben«. Andere haben »die Nase voll« und wollen sich »frischen Wind um die Nase wehen« lassen. Niemand lässt sich gerne »an der Nase herumführen«, man bekommt plötzlich etwas »vor die Nase gesetzt«, oder es wird einem »vor der Nase weggeschnappt«.

      Manchmal muss man sich aber auch »an die eigene Nase fassen«, etwa dann, wenn man »seine Nase in fremde Sachen gesteckt« hat, »anderen auf der Nase herumtanzt«, seine »Nase zu hoch trägt«, »die Nase rümpft«, jemandem »eine (lange) Nase dreht«, etwas Falsches »unter die Nase reibt«. Man könnte »auf die Nase fallen«, wenn jemand unsere »Nase nicht passt« oder schlimmstenfalls eins »auf die Nase kriegen«.

      Riechspezialisten aus der Wein- und Parfümbranche haben besonders »feine Nasen«. Mit ihnen erkunden sie Duftnoten und benennen sie mit Labels wie »blumig, fruchtig, süß, warm, würzig, holzig, ledern, herb, orientalisch, erotisch« oder neuen Fantasienamen.

      Trotz niedlicher Näschen oder Stupsnasen sind die meisten Beschreibungen der Nase – wie Gesichtserker, Rotznase, Zacken, Knolle, Rüssel, Kolben, Zinken, Himmelfahrtsnase, Adlernase, Hakennase, Boxernase, Säufernase oder Pappnase – eher despektierlich. Im Volksmund wird die männliche Nase auch mit seinem Geschlecht verbunden: »An der Nase eines Mannes erkennt man auch seinen Johannes.« 1947–49 hat Alberto Giacometti seine surrealistische Skulptur »Le Nez« geschaffen.

      Manch einer »riecht den Braten« beizeiten oder »traut dem Braten nicht«, merkt, dass an einer Sache »etwas faul ist« oder »dicke Luft herrscht«. Er kann sich rechtzeitig »verduften«. Es kann hilfreich sein, wenn man sein Gegenüber erst einmal »beschnuppert«, etwa dann wenn ihm »ein anrüchiger Geruch anhaftet«. Natürlich kann dies auch ein »Gerücht« sein.

      Wenn man jemanden »gut riechen« kann, dann ist dieser sympathisch. »Det is dufte«, sagt der Berliner. Im vertrauten Milieu herrscht der richtige »Stallgeruch«. Im »Dunstkreis« mancher Menschen möchte man sich lieber nicht bewegen. Andere haben bereits ihre »Duftmarke« gesetzt.

      Menschen können »Stunk machen«, »stinkig sein« oder »Latrinenparolen« verbreiten. Anderes »stinkt einem tierisch« oder scheint »erstunken« und erlogen zu sein. Menschen können »mundfaul« sein, und man muss ihnen »alles erst aus der Nase ziehen«.

      Alberto Giacometti: Le Nez, 1947–49

      Manchmal ist die Luft »verpestet« (wie ursprünglich die schlechte Luft während der Pestepidemie). Die Krankheit der Malaria (ital. »malaria«, schlechte Luft) nahm ihren Ursprung in modrigen, versumpften Gebieten der Antike. An manchen Orten »mieft und muffelt« es oder es »riecht streng, übel, bestialisch und widerwärtig«, sodass es »in der Nase beißt oder sticht«.

      Umweltbehörden erlassen auch heute »Luftverordnungen«, in denen sie Grenzwerte für gefährliche Dämpfe, Abgase und Ausdünstungen festlegen.

      


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