Der eigen-sinnige Mensch - eBook. Helmut Milz

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notgedrungen in einen »sauren Apfel beißen«, macht dazu ein »saures Gesicht« oder »gibt jemandem Saures«.

      Bitterer Geschmack weckt die Assoziation potenziell giftiger Nahrungsmittel. Ein »bitterer Nachgeschmack« kann Ausdruck davon sein, dass eine »bittere Wahrheit« ausgesprochen wurde. Jemand ist »verbittert«, macht »bittere Erfahrungen« und schluckt »bittere Arzneien« oder fürchtet »erbitterte Feindschaften«. Bitter leitet sich vom mittelhochdeutschen »bitta« – »beißend, scharf« ab. Es stellt eher einen herben, für manchen fast schmerzlichen Geschmack dar. Galle ist bitter. »Bitterlich« kann für abscheulich, ekelhaft, grässlich, betrüblich, spöttisch und zynisch stehen. Manches nimmt ein »bitteres Ende«, jemand wird »bitterböse«, man kann etwas »bitter bereuen« oder »bitter nötig« haben. Eine ungewöhnliche Mischung stellt das Wort »bittersüß« dar, das die gleichzeitige Mischung aus guten und schlechten Erfahrungen zum Ausdruck bringt.

      Der Mund, durch den die Nahrung in uns gelangt, hat im Volksmund viele Bezeichnungen wie Maul, Klappe, Schnauze, Schnute oder Fresse. Man kann jemandem »nach dem Mund reden«, »über den Mund fahren«, jemand hat ein großes »Mundwerk«, man kann jemandem »Honig ums Maul schmieren« oder »das Maul aufreißen«. Ein anderer steht »mit offenem Mund« daneben. Eine Gaumenfreude »mundet«. Die Art und Weise, etwas in den Mund zu nehmen oder zu essen, kann ruhig und bedächtig sein, während andere etwas in sich hineinstopfen und herunterschlingen. Unangenehmes und Unausgesprochenes kann man in sich »hineinfressen«. Der Mund wird poetisch beschrieben als »der Platz, an dem wir die Welt begrüßen«, als das »Tor des Körpers« oder als »Salon des großen Risikos« (Diane Ackerman).

      Im Mund, als einer der intimsten Zonen des Körpers, befindet sich die Zunge. Mal ist diese Ausdruck von Provokation und Ekel, mal kann die Zunge Lust anzeigen und lüstern wirken. Die Zunge kann »schwer sein« oder »sich lösen«. Es kann einem etwas »auf der Zunge liegen«, was man aber nicht ausspricht. Manchmal möchte man sich »auf die Zunge beißen«, und man muss »seine Zunge hüten« oder »im Zaum halten«. Man kann »das Herz auf der Zunge tragen« oder etwas »mit Engelszungen« ausdrücken.

      Den oberen Teil der Mundhöhle, den Gaumen, kennen wir im Zusammenhang mit »Gaumenfreuden« und einem »feinen Gaumen«. Was Appetit macht, kann »den Gaumen kitzeln«, gutes Essen kann zu einem »verwöhnten Gaumen« beitragen. Auch die Geräusche, die beim Essen entstehen, das Schmatzen und Schlürfen, das Knacken und Knuspern (»Ohrenschmaus«) tragen zum Geschmack bei, ebenso wie Farben und Formen, die das Essen zur »Augenweide« machen. Der Geschmacksphilosoph Brillat-Savarin hat davon gesprochen, dass beim Schmecken »der Mund die Küche« und »die Nase der Schornstein« sei. Geschmacksempfindungen werden zusammen mit den Riechorganen wahrgenommen. Die letztendliche Bewertung dessen, was in Mund, Gaumen oder der Nase gefühlt wird, findet durch Vergleiche auf der Ebene des Gehirns statt.

       Die Sinnesphysiologie des Geschmacks

       Gegessen wird mit den Sinnen, ernährt mit dem Verstand.

       Johann Wolfgang von Goethe

      Evolutionär hat der Geschmackssinn eine entscheidende Rolle für Nahrungssuche und Nahrungsauswahl, vor allem für die Unterscheidung von essbaren oder giftigen Nahrungsmitteln. Bei hochentwickelten Lebewesen wie den Menschen, die sowohl pflanzliche als auch tierische Nahrung zu sich nehmen, brachte dies eine strukturelle Weiterentwicklung ihrer Hirnstrukturen mit sich, insbesondere von größeren Hirnarealen für die Nahrungsbewertung.

      Die Zunge dient als Wegweiser für die Genießbarkeit oder die Gefahren der Nahrung. Sie zeichnet sich durch ihre große Beweglichkeit aus. Dabei kann sie sich zum einen durch das Zusammenspiel von inneren Zungenmuskeln stark verformen und zum anderen durch äußere Zungenmuskeln in alle Richtungen bewegt werden. Dies macht eine mechanische Prüfung der aufgenommenen Nahrung und eine umfassende Inspektion der Mundhöhle möglich.

      Bereits im 18. Jahrhundert begann man, die Schleimhaut der Zunge zu erforschen. Die dort vorhandenen Erhebungen, die Papillen, haben verschiedene Formen. Durch Einfaltungen der Papillenstruktur wird die Oberfläche der Zunge erheblich vergrößert. Ein Teil dieser Papillen ermöglicht subtile Tastempfindungen. Eine andere Gruppe sind die Geschmacksknospen, die mit Geschmacksnerven verbunden sind. Diese pilzförmigen Papillen können ihrerseits ebenfalls Tast- und Temperaturempfindungen registrieren. Hinzu kommen Wallpapillen, die mit ihren Spüldrüsen die Zunge befeuchten.

      Zungenquerschnitt mit Papillen und Geschmacksknospen.

      Zahlreiche Speicheldrüsen sorgen dafür, dass die Geschmackspapillen immer wieder gereinigt werden und für neue Empfindungen zugänglich sind. Die Zahl der Geschmacksknospen ist bei Neugeborenen am höchsten (ca. 10 000) und nimmt im Laufe des Lebens langsam ab (bis auf ca. ein Fünftel im hohen Alter). Dabei haben Arzneimittel wie Penicilline, das Parkinson-Mittel L-Dopa, Krebsmedikamente sowie Zigarettenrauch einen negativen Einfluss, der nach dem Absetzen wieder zurückgehen kann. Studien schätzen, dass etwa ein Viertel aller Menschen über fünfzig Jahre unter einem verringertem Geschmacksempfinden (Hyposmie) und etwa ein Drittel der Menschen über siebzig Jahre unter starkem oder komplettem Verlust (Anosmie) leiden. Ältere Menschen leben in einer anderen »Geschmackswelt« als jüngere.

      Geschmacksknospen enthalten etwa 20 bis 50 Sinneszellen. Durch winzige Öffnungen an der Oberfläche der Geschmacksknospen können die Nährstoffe, die zuvor von den Zähnen zerkleinert und mit Speichel durchmischt wurden, in diese eindringen. Dort werden sie von Sinneszellen, den Geschmacksrezep torzellen, registriert. Solche Zellansammlungen befinden sich neueren Untersuchungen zufolge in geringer Zahl auch im Gaumen, Rachen, Kehlkopf und oberer Speiseröhre.

      Die Sinnesphysiologie hat den chemischen Sinnen, dem Riechen und Schmecken, zu Beginn relativ wenig Beachtung geschenkt. Dies lag auch daran, dass die technischen Voraussetzungen zu ihrer Erforschung noch wenig entwickelt waren. Über viele Jahre gab man sich mit relativ einfachen Erklärungen zufrieden. 1901 publizierte der Berliner Physiologie David Paul Hänig ein Buch mit Experimenten zur Psychophysik des Geschmackssinns. Darin veröffentlichte er Beobachtungen, die er dadurch gewonnen hatte, dass er Institutskollegen unterschiedlich konzentrierte Lösungen von Zucker, Kochsalz, Salzsäure und Chinin auf die Zunge gepinselt hatte. Zugleich hatte er notiert, welche spezifischen Lösungskonzentrationen seine Kollegen gerade eben noch auf bestimmten Bereichen ihrer Zunge schmecken konnten. Diese »Schwellenwerte für geringste Konzentrationen« zeichnete er auf »Zungenkarten« ein. Zusammenfassend bemerkte er, dass sich die »spezifischen Endapparate des Geschmackssinns« auf den Zungenrand verteilten, wo ihre Wahrnehmung am größten war.

      Vierzig Jahre später fiel seine experimentelle Arbeit dem amerikanischen Sinnesphysiologen Edwin Boring in die Hände. Dieser versuchte, den Text ins Englische zu übersetzen. Um dem Ganzen einen zeitgemäßen, wissenschaftlichen Anstrich zu verleihen, übertrug er Hänigs Angaben in eine Schaugrafik. Dabei verstand er den deutschen Begriff »Schwellenwerte« falsch und übersetzte ihn mit »sensitivity« (Empfindlichkeit) Zudem fertigte er eine scheinbar »bessere Zungenkarte« mit festgelegten Bereichen für »süß, sauer, salzig und bitter« an. Diese Karte wurde über die nächsten 50 Jahre Wissenschaftler und Schulkinder gelehrt. Erst Anfang der 90er-Jahre konnten Untersuchungen der Zunge zeigen, dass prinzipiell alle Geschmacksqualitäten in allen Zungenbereichen wahrnehmbar sind, allerdings, wie auch schon Hänig festgestellt hatte, in unterschiedlicher Intensität. Die berühmte »Zungenkarte« von Boring war durch einen Übersetzungsfehler für viele Jahre zum wissenschaftlichen Mythos geworden.

      Durch neue technologische Möglichkeiten der Mikrobiologie und der Gentechnologie konnte seit den 1990er-Jahren eine genauere Untersuchung der Geschmacksrezeptoren erfolgen. Dabei entdeckte man, dass das sogenannte gustatorische Epithel (die Schleimhaut der Zunge) zu den wenigen menschlichen Organen gehört, die sich vollständig regenerieren können. Die Geschmacksrezeptoren der Zungenoberfläche weisen Eiweiß bindende Rezeptoren und Ionenkanäle auf, die die Geschmacksstoffe identifizieren. Deren Geschmackssignale binden sich an spezifische Rezeptoreiweiße und führen zur Freisetzung von Neurotransmittern (Botenstoffen der Nerven), die anschließend elektrische Signale in die Hirnnerven


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