Der eigen-sinnige Mensch - eBook. Helmut Milz
dass manuelle, ärztliche Untersuchungen im Vergleich zu technischen Geräten eine geringere diagnostische Genauigkeit besitzen.
Die sorgfältige ganzkörperliche Untersuchung ist auch für geübte Ärzte zeitaufwendig. Der Zeitdruck, der heute auf Ärzten lastet, drängt manuelle körperliche Untersuchungen in den Hintergrund. Welche Qualitäten und welche zwischenmenschlichen Aspekte der Arzt-Patienten-Beziehung dabei verloren gehen, ist eine Debatte wert.
Unter dem Titel »Losing touch« hinterfragen kanadischen Familienärzte den Verzicht auf körperliche Untersuchung. Damit gehe ein wichtiges Stück Vertrauen und »pathisches Wissen« verloren. Diese Ärzte sprechen von einer »judgement-based care«, einer auf erfahrenen Beurteilungen beruhenden Versorgung, die alle menschlichen Sinne einschließlich der Gefühle einbeziehe und den Erfahrungen und Zukunftsvorstellungen der Patienten gebührend Aufmerksamkeit schenke. Dies könne helfen zu vermeiden, dass Ärzte vorschnell die erlebte Wirklichkeit eines spürbaren Körpers gegen die digitale Verrechnung von Körperstrukturen eintauschten (Martina Kelly u.a.).
Therapeutische Berührungen
»Die Haut ist das Organ der Grenze: Hier hört der Organismus des Individuums auf, und hier beginnt die angrenzende An- und Umwelt. So ist die Haut, da sie eine Grenzfunktion erfüllt, das Innenwelt und Außenwelt verbindende Organ. Hier geht eines in das andere über, tauscht sich eines mit dem anderen aus, wirkt eines auf das andere ein« (Hugo Kückelhaus).
Jede Berührung ist eine hautnahe Begegnung. Sie ermöglicht Kontaktaufnahme und die Überwindung von Abstand. Sie bewirkt Austausch und gegenseitige Einwirkung von zwei fremden Welten. Wie viel Durchlässigkeit an den Grenzflächen von Berührungen möglich ist, erlaubt und zugelassen oder abgewehrt wird, dies kann je nach Kontext, Situation und Person sehr unterschiedlich sein.
Die Vorsilbe »be-« ist verbunden mit »beide«. Ein Kontakt bezieht sich als »kon«- (»mit«) und »tangere« (»berühren, verbinden«) auf ein entstandenes Miteinander von zwei zuvor getrennten Einheiten. Durch tastendes Berühren (»haptisch«), erkunden, umfassen, erspüren, begreifen wir Oberflächen, Formen, Festigkeiten, Temperatur oder Gewicht eines zuvor fremden Gegenübers.
Die gezielte Arbeit mit Körperkontakt ist in der Medizin, Physiotherapie, Massage oder Psychotherapie hilfreich, kann manchmal aber auch schädlich sein. Berührungen können behutsam sein und quasi zuhörend, aber auch zupacken und gezielt eingreifen. Sie können emotional bewegen, Erregungen dämpfen, Anspannungen lösen oder heilsame Geborgenheit vermitteln.
Therapeutische Berührungen fördern bisweilen in Verbindung mit ermutigender, sprachlicher Unterstützung körperliches Gewahr werden. Bei neurotisch gestörten oder traumatisierten Menschen helfen sie, unbewusste, ursprünglich nur als Alarmzeichen gedeutete Körperempfindungen gelassener und distanzierter zu bewerten, wieder abklingen zu lassen und zu integrieren.
Oft bewirken therapeutische Berührungen zu Beginn Abwehr oder Furcht. Charlotte Selver hat vorgeschlagen, dass am Beginn von pädagogischen oder therapeutischen Berührungen stehen sollte: »Sind Sie damit einverstanden, wenn ich Sie jetzt berühre?« Der Dichter Novalis schrieb: »Man berührt den Himmel, wenn man einen Menschen berührt.« Auch wenn dies eine romantische Formulierung ist, so trifft sie doch den Kern des Respekts für das Gegenüber. Ähnlich betonte der Philosoph Martin Buber die Berücksichtigung der Gleichzeitigkeit einer zwischenmenschlichen »Ich-Du«-Beziehung mit einer professionellen, sachlichen »Ich-Es«-Behandlung.
Wenn man einen fremden Menschen berührt, dann wird man gleichzeitig auch von diesem berührt. Geschulte Hände, »manipulieren« nicht nur die körperlichen Strukturen, sondern sie vermitteln auch Stimmungen und Gefühle. Meisterinnen der therapeutischen Berührung erkunden ihre Klienten mit »wachen und leeren Händen«. Sie lassen sich vom »jeweils Besonderen« ihres Gegenübers berühren.
Eigene Erfahrungen mit Berührungs- und Bewegungsqualitäten sind notwendige Voraussetzungen für eine gute therapeutische Behandlung von Anderen. Über viele Jahre habe ich mich praktischen Übungen von unterschiedlichen Methoden wie der Feldenkrais-Arbeit, Eutonie, Body-Mind Centering, Sensory Awareness, Esalen-Massage, Konzentrativer Bewegungstherapie, Rolfing, Alexandertechnik, Physiotherapien, Osteopathie, Manuelle Medizin, Chiropraxis und anderen Körpertechniken unterzogen, um »am eigenen Leib« deren Wirkungen zu erproben. Berührungsexperimente fördern die Erkundung des Körpers im Raum, in Bodenlage, im Sitzen, Stehen und Gehen, in langsamen und schnellen, in geplanten, freien oder manchmal auch in vorgestellten Bewegungen. Die Kontaktaufnahme mit Händen und Füßen, mit Bällen, Stäben, Steinen, Stoffen oder pflanzlichen Materialien hilft, ein »Gespür für Unterschiede« von Oberflächen, Formen, Größen, Gewicht, Festigkeit oder Temperatur zu verfeinern.
In der Zusammenarbeit mit Manfred Clynes, dem Begründer der Sentics-Methode, konnte ich Berührungsqualitäten als Ausdruck von Gefühlen kennenlernen. Als Psychologe und Konzertpianist hatte er in seinem Buch: Sentics the touch of emotions, die Ausdrucksqualitäten von Gefühlen (distanziertes Gefühl, Ärger, Hass, Trauer, Liebe, Sexualität, Freude und Ehrfurcht) herausgearbeitet. Jahre später hat der Neurobiologe David Kadner untersucht, ob und wie Menschen die Kommunikation von Gefühlen durch Berührung nachvollziehen können. In seinen Forschungen wurden Versuchspersonen von Menschen berührt, welche sie aber nicht sehen konnten. Diese erinnerten sich selbst während der Berührungen an spezifische Gefühle. Die berührten Versuchspersonen konnten die »inneren« Gefühle der anderen allein durch ihre jeweilige Berührungsqualität, ohne sprachliche Informationen, weitgehend richtig erkennen. Solche Untersuchungen geben Hinweise, dass Berührungen eine eigene Sprache und Grammatik besitzen.
Wie fühlen sich Berührungen an? Was lösen sie aus? Wie können sie variiert werden? Welches Tempo, welcher Druck oder wie viel Pausen sind angemessen? Welche Assoziationen und Erinnerungen setzen sie frei?
Manche Berührungstechniken bleiben behutsam an der Oberfläche und lösen mit ruhigen, langen Massagestrichen Spannungen. Andere verharren länger bei einzelnen Körperbereichen, ohne aktive Bewegungen, sondern sie »lauschen« auf Antworten des Körpers ihres Gegenübers auf ihre Berührungen. Manche Berührungstechniken richten sich an spezifische Gewebestrukturen und Organsysteme in der Tiefe des Organismus, an Muskeln, Sehnen, Bindegewebe, Faszien oder Knochenstrukturen.
Ein Podologe bei der Arbeit. Aquarell von Zhou Pei Qun, ca. 1890.
Bonnie Bainbridge-Cohen betonte, wie wichtig es sein kann, wenn man in der Behandlung eines »Problembereichs« (etwa Schmerzen oder Bewegungseinschränkungen) sich diesem »aus dem korrespondierenden Bereich seines eigenen Körpers« annähert. Moshe Feldenkrais führte seine Behandlungsvorschläge in der »Funktionalen Integration« meist »indirekt«, also nicht »am Ort« der »erlebten Probleme« aus. Heinrich Jacobi betonte die bewusste Notwendigkeit des »Erlaubens« und »Gestattens« von Veränderungen, bevor diese längerfristig wirken könnten.
Gerda Alexander arbeitete Unterschiede heraus, zwischen Berührung als »selbstverständlicher, fortlaufender Information über meinen Körper und seine Grenzen« sowie »Kontakt« als bewusst erlebter Verbindung, Fühlungnahme und Begegnung mit der jeweiligen Situation. Man kann beispielsweise im Stehen den Boden mit den Füßen berühren. Aber man kann dabei gleichzeitig bewusster erleben, dass und wie dieser Boden mich jetzt »trägt«, mir Halt gibt und die Möglichkeit, diesen Halt als Widerstand für den nächsten Schritt zu nutzen.
Kontakt nimmt Bezug auf Fragen wie: »Was will dieser Moment oder diese Aufgabe von mir?« Bin ich bei mir und bei der Situation? Bin ich aufmerksam, interessiert (lat. »inter- esse«, dazwischen sein), offen, wach, aufgeschlossen, empfänglich für das, was ich beabsichtige und tue? Nehme ich bewusst »Anteil« an dem, was geschieht? Oder fühle ich mich nicht angesprochen, bin ich müde, gelangweilt, schwer, angespannt oder unter Zeitdruck? Möchte ich die Sache schnell hinter mich bringen? Wenn es gelingt, mehr im Kontakt (lat. »cum«- mit/zusammen, »tangere« – berühren, beeindrucken) mit sich zu sein, innerlich berührt zu sein, sich aufmerksamer in die Situation einzuspüren, dann kann man am/im eigenen Körper leib-seelische Spannungsunterschiede (den jeweiligen