Der eigen-sinnige Mensch - eBook. Helmut Milz

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zeigen? Welchen Stellenwert hatten Augen und Ohren vor der Erfindung des elektrischen Lichts oder des Mobiltelefons? Wie verändern sich unsere Sinne heute, und welche Folgen könnte dies in Zukunft haben? Welche Chancen und Risiken bieten sensorische Apps, die Überwachung durch Telemedizin oder neue technische Spürnasen zur Krebsdiagnostik? Die Entwicklung unserer Sinne bewegt sich zwischen deren zunehmender Delegierung an externe Sensoren und der Förderung von Experimenten wie etwa in den Körpertherapien.

      Verlagert sich in unserer Kultur die symbolische »Mitte des Menschen« vom Herzen zum Gehirn? Die Neurobiologie löst die Kardiologie als Königsdisziplin der Medizin zunehmend ab. Was bedeutet es, dass unser Körper im »Mikrobiom« weitaus mehr fremde Organismen beherbergt, als wir eigene Körperzellen haben? Welchen Einfluss nehmen darauf Ernährung oder Medikamente? Hat dies etwas mit der Zunahme von chronischen Darmleiden zu tun?

      Unser Körper besteht überwiegend aus Wasser? Welche Zusammenhänge ergeben sich daraus mit der zunehmenden Verknappung von Trinkwasser in großen Teilen der Welt? Kann eine sensible Aufmerksamkeit für die Knochen und das tragende Skelett helfen, stabiler auf den eigenen Füßen zu stehen sowie Osteoporose oder Stürze im Alter aktiv zu verringern? Nimmt körperliche Bewegung über die Produktion von Botenstoffen wie Myokinen nachweislich Einfluss auf Herzerkrankungen und Depressionen? Wie kann es gelingen, festgefahrene Gedanken wieder in Bewegung zu bringen? Wie lassen sich menschliches Vorstellungsvermögen und Einbildungskraft bewusst für die Wirkungen des Placebo-Effekts mobilisieren?

      Dies sind einige der Themen, denen ich mich in dieses Buch zuwende. Es lädt dazu ein, sich an der Suche nach Antworten zu beteiligen.

       Die Vielfalt begrenzen

      Die Komplexität des menschlichen Körpers ist so groß, dass in diesem Buch nur einige Aspekte dargestellt werden können. Ich habe einige wichtige Themen auslassen müssen, denen aber augenblicklich an anderen Stellen viel Aufmerksamkeit gewidmet wird. Verwiesen sei auf die interessanten Dynamiken des Immunsystems als körperlichem Abwehrsystem, das zugleich auch wichtige Leistungen der notwendigen Toleranz gegenüber körperfremden Stoffen und Organismen regeln muss, wie etwa bei Allergien und Autoimmunerkrankungen. Viele Erkenntnisse der Neurobiologie werden in den Medien heute als Hoffnungsträger gehandelt. Dabei werden erste Erkenntnisse oft verfrüht als gesichertes Wissen präsentiert. Man kann nicht über den menschlichen Körper sprechen, ohne die vielen Unterschiede zu berücksichtigen, die sich aus den Geschlechterfragen ergeben. Die Thematik der Sexualität und anderer Gefühle wird in diesem Buch nicht ausführlicher behandelt. Auch die vielen spezifischen Aspekte, die mit Lebensaltern – Geburt, Kindheit, Jugend, Erwachsensein und Alter – zusammenhängen können hier nur verkürzt behandelt werden.

       BERÜHREN –

       Die Welt ertasten und empfinden

       Der Tastsinn ist die Grundlage aller übrigen Sinne. Es ist offensichtlich, dass das Organ des Tastsinns im gesamten Körper ausgebreitet ist und dass ein jedes Sinnesorgan zugleich ein Tastorgan ist und dass das, weswegen etwas sinnlich genannt wird, der Tastsinn ist.

      Thomas von Aquin, De anima II, 19

       Hautsinn und Berührungsqualitäten

      Berührungen stehen am Beginn unseres Lebens und Erlebens. Bereits ab der achten Woche der Schwangerschaft reagiert ein kaum zwei Zentimeter großer Embryo auf Berührungsreize. Auf diesen Empfindungen bauen alle anderen Sinne auf. In der Haut, aber auch in allen Schleimhäuten, Muskeln und Gelenken befinden sich Empfängerzellen (Rezeptoren), welche beständig Berührungen an unser Gehirn melden. Dort werden diese gebündelt und vermitteln uns Informationen über den aktuellen Zustand des Körpers. Sie ermöglichen uns, dass wir uns im Raum und der Umwelt orientieren.

      Die Haut ist Verteidigungslinie gegen Gefahren aus der Umwelt und erlaubt unmittelbare Verbindung mit der Welt. Berührungen informieren uns und können spontane Reflexe provozieren. Wir lernen aus Berührungen und können uns mit ihrer Hilfe vorstellen, wie sich ein spitzer Stein oder eine heiße Kartoffel anfühlen. Wir wählen den uns angenehmen Kleiderstoff oder wissen um die Kraft, die wir benötigen, um den Verschluss einer Tube zu öffnen.

      Berührungen sind lebensnotwendig und lösen Gefühle aus. Beispiele dafür sind ein zartes Streicheln über den Kopf des Kindes, ein aufmunternder Klaps auf den Rücken, ein kräftiger Händedruck, ein Schubser, der Aufmerksamkeit fordert, ein sinnlicher Hautkontakt, ein zarter Kuss oder eine sexuelle Berührung. Medizinische und therapeutische Berührungen nutzen gezielt deren heilsamen Wirkungen.

      Die wenigsten Berührungen sind uns im Alltag bewusst. So bleiben etwa die Kontakte unserer Füße mit dem Boden, Berührungen mit dem Stuhl, auf dem wir sitzen, die Kleidung auf unserer Haut, die vielen Selbstberührungen oder die Zimmertemperatur meistens im Hintergrund unserer Aufmerksamkeit. Erst wenn wir stolpern, wenn die Unterlage ungewohnt ist, die Kleidung drückt oder kratzt oder die Temperatur stärker abweicht, merken wir auf.

      Der Kulturanthropologe David Howes hat beschrieben, dass bei abgelegeneren, naturnahen Kulturen ein »Hautwissen« besteht, das diesen Menschen erlaubt, sich mit ihrem subtilen Gespür für Sonne, Wind, Regen und Wald zu orientieren. In unserer Welt erscheint dies »exotisch und primitiv« zu sein.

      Soziale, kulturelle oder klimatische Einflüsse beeinflussen die Qualitäten des Hautsinns, wie etwa die Art der Kleidung. In frühen Kulturen trugen die Menschen zum Schutz gegen die Widrigkeiten der Natur Tierfelle oder pflanzliche Fasern. Spätere Kulturen erfanden Web-, Knüpf- und Nähtechniken, um andere Materialien zu neuer Kleidung zu verarbeiten. Auch in der Auswahl der Kleidungsstoffe drückten sich soziale Unterschiede aus. Seide und Samt blieben meist der Oberschicht vorbehalten, Leinen und derbe Wolle trugen die anderen. Heute beeinflussen dies »der Markt«, die Werbung und die Mode.

      Im Mittelalter war zwischenmenschlicher Körperkontakt als Wärmespender zwingend nötig. Man rückte eng ums Feuer zusammen und schlief zu mehreren aneinandergedrängt in einer Bettstatt. Die Erfindung von Kaminen, Heizungen und Fensterscheiben erlaubte später die Separierung von individuellen Schlafräumen. Es entwickelten sich größere körperliche Distanz und eine allgemeine Verringerung des alltäglichen Körperkontakts. Heute versuchen wir, im öffentlichen Raum Körperkontakte tunlichst zu vermeiden. Bei jeder zufälligen Berührung durch Fremde erfolgt rasch eine Entschuldigung.

      Berührungen haben persönliche und häufig auch intime Qualitäten. Sie können Ambivalenz und Unsicherheit darüber beinhalten, welche Berührungen gesucht, erwünscht, ersehnt oder auch befürchtet werden. Dementsprechend benötigen sie Feingefühl, Respekt und Differenzierung. Bei allen Berührungen ist es wichtig, wie und mit welcher Absicht man jemanden berührt. Bei mangelndem Einverständnis können Berührungen übergriffig sein und nachhaltig verletzen.

      Zukunftsforscher sprachen vor drei Jahrzehnten vom bevorstehenden Zeitalter von »High Tech« und »High Touch« (John Naisbitt). Inzwischen bringen Individualisierung und Vereinsamung vieler Menschen steigende Spannungen in unserer Gesellschaft zwischen Berührungshunger und Berührungsängsten mit sich. Immer mehr Menschen nutzen die Haut als Objekt für demonstrative Zurschaustellungen von Gemälden und Absichtserklärungen durch Tattoos. Es entstehen »Kuschelclubs«, als neue Dienstleistungen der Vermittlung von vorübergehender Nähe. In Wellnessoasen haben Berührungsangebote Hochbetrieb. Zur gleichen Zeit werden durch die »me too«-Debatte Übergriffe gegen Frauen in Institutionen und in der Kulturindustrie öffentlich gemacht. Auch in ärztlichen Behandlungen oder in Körper- und Psychotherapien kommen Übergriffe vor. An Schulen und in Arztpraxen wird Gewalt und Verrohung geklagt.

      Die Wissenschaft hat sich lange Zeit kaum mit Berührung, Haut und Tastsinnen beschäftigt. Seit einigen Jahrzehnten hat sich dies deutlich geändert. Unterschiedliche Forschungsgebiete wie Neurowissenschaften, Medizin, Sozialpsychologie, Kognitionswissenschaften, Kulturanthropologie, Ingenieurwissenschaften, Ergonomie, Kunst, Design, Marketing, Robotik, virtuelle Realität und technische Kommunikationswissenschaften untersuchen heute das Tastsystem (A. Galace, M. Spence, 2008). Sie erkennen dabei, wie wichtig Berührungen für die Entwicklung von Frühgeborenen sind oder dass einfühlsame Berührungen angstlösend, schlaffördernd und


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