Der eigen-sinnige Mensch - eBook. Helmut Milz

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des Bodens im Liegen oder Stehen. Widerstand bedeutet Gegenwirkung zu einer vordringenden leiblichen Richtung«. Tastend begegnen wir dem »anderen«, das uns zugleich fremd und verwandt scheint. Das »Fremde«, das uns berührt und das wir berühren, hinterlässt in uns »Eindrücke«. Diese sind nicht nur mechanisch, sondern haben auch Gefühlsqualitäten. Berührungsreize vermischen sich mit anderen Sinneswahrnehmungen und Gedächtnisinhalten, mit Handlungsabsichten, Erwartungen und Gefühlsbewertungen.

       Psychobiologische Konsequenzen von Nähe und Berührung

      Biochemie und Neurochemie waren die Grundlagen für die Arbeiten des Primatenforschers Harry Harlow. Mithilfe von technischen »Surrogat-Müttern« konnte er erstmals die fundamentale Bedeutung von mütterlicher Berührung und Zuwendung für die Entwicklung des Wachstums von Säuglingen nachweisen. Seine Forschungen über »Kontakttröstungen« bei jungen Primaten zeigten, dass Berührungen ein hochwirksamer, biologischer Ausdruck von mütterlicher Liebe sind. Seine Mutter-Kind-Experimente mit Affenbabys förderten wichtige Umwälzungen in der Psychologie des 20. Jahrhunderts.

      Der Zeitgeist der Laborforschung war in den 50er-Jahren stark von technischen Apparaturen dominiert. In diesen Forschungen zur existenziellen Bedeutung von körperlicher Berührung wurden viele Jungtiere durchaus malträtiert, um dadurch größere Aufmerksamkeit für die Bedeutung der behutsamen Erziehung von Menschenkindern zu ermöglichen (Donna Haraway). Harlows Arbeiten wurden wegen ihrer drastischen Forschungsmethoden auch kritisiert. Sie fanden jedoch in einem kulturellen Klima statt, in dem von wissenschaftlicher Seite noch häufig und lautstark eine »distanzierte« mütterliche Liebe für notwendig befunden wurde. Sie sollte stattdessen auf einer »neutralen Nähe« basieren, denn zu viele Berührungen, so hieß es, würden kleine Kinder nur »verweichlichen« und »Abhängigkeitsprobleme erzeugen«.

      Der Psychologe und Endokrinologe Seymour Levine konnte nachweisen, dass die Trennung junger Primaten von ihren Müttern zu erheblichen pathologischen Veränderungen ihrer Stresshormone führte. Wenn die jungen Primaten anschließend mit ihren Müttern wieder vereint wurden, zeigte sich rasch eine Rückentwicklung der ausgeschütteten Stresshormone sowohl bei den Jungen als auch bei ihren Müttern. Weitere Arbeiten der Berührungsforschung zeigten, dass Frühgeborene, die mehrmals am Tag für einige Minuten sanft massiert werden, deutlich schneller an Gewicht und Kraft zunehmen. Diese Berührungen fördern eine schnellere Reifung des Nervensystems.

      Schritt für Schritt wurden Berührungen immer mehr als wichtiger Faktor des menschlichen Überlebens verstanden. Forschungen über die Wechselwirkungen der Mutter-Kind-Beziehungen, unterstützt durch psychoanalytische Beobachtungen in der Säuglingsforschung (John Bowlby, Rene Spitz, Daniel Stern), zeigten praktische Möglichkeiten für eine verbesserte Gestaltung des »Bindungsverhaltens« zwischen Müttern und ihren Kindern auf.

      Soziologisch sind die psychobiologischen Forschungen als Teil eines sich insgesamt verändernden Klimas der amerikanischen Gesellschaft zu verstehen, das seit den späten Jahren des Zweiten Weltkriegs eine zunehmende »Psychologisierung« (Eva Illouz) der Erziehung, der sozialen Interaktionen und der Gestaltung von Arbeitsplätzen vorantrieb.

      Bereits 1906 hatte der Engländer Henry Dale ein Hormon der Hirnanhangsdrüse (Hypophyse) entdeckt, das er nach einer griechischen Sprachableitung Oxytocin nannte, was so viel bedeutet wie »schnelle, leichte Geburt«. Er hatte die Rolle dieses Neuropeptids für den Geburtsverlauf und die nachfolgende mütterliche Milchproduktion beim Stillen erforscht. Dreißig Jahre später erhielt Henry Dale für seine Entdeckung den Nobelpreis für Medizin. Erst langsam wurde das gesamte Wirk- und Einflussspektrum von Oxytocin deutlicher, vor allem im Zusammenhang mit Berührungen, auch im Erwachsenenalter, mit Nähe, Vertrauen und Intimität. Oxytocin wird heute als »Gegenspieler« zu Stresshormonen und als mitverantwortlich für die Initiierung von »Ruhe und Verbindungsreaktionen« angesehen. Manche sprechen leicht ironisch von einer »Wunderdroge« (Stefanie Kara). Oxytocin kann die Serotonin-Freisetzung beeinflussen, was auch darauf hinweist, dass Berührungen eine wichtige Rolle in der Prävention und Therapie von Depressionen haben können.

       Störungen des Tastsinns und psychosomatische Aspekte von Hautleiden

      Nervenentzündungen oder -verletzungen, Multiple Sklerose, chronische Stoffwechselerkrankungen der Niere, Diabetes mellitus, toxische Umweltvergiftungen oder psychische Leiden können zu Störungen des Tastempfindens führen.

      Der Neurobiologe António Damásio nennt die Haut »das größte aller Eingeweide« im Körper. Bei seelischen Belastungen führt die Verengung oder Erweiterung von Blutgefäßen unter der Haut dazu, dass sich »peinliches Erröten« zeigt.

      In der »Psychosomatik der Haut« wird beobachtet, dass etwas zu sehr »irritiert«, »(zu) hautnah geschieht«, unbewusst »unter die Haut gegangen ist«, sodass es notwendig sei, »sich seiner Haut zu wehren« oder »seine Haut zu retten«.

      Selbst zugefügte Hautverletzungen durch Ritzen und Schneiden sind bei sogenannten Borderline-Störungen häufig. Sie bringen diesen Menschen eine vorübergehende Entlastung und werden nicht in suizidaler Absicht ausgeführt (Ulrich Sasse).

      Bei chronischen Überlastungen und unbewusstem Abwehrverhalten kann sich dieses mit Juckreiz paaren. Neurodermitis drückt sich in Rötung und Verfärbungen der Haut sowie in Schuppungen und unbewusst in Widerwillen und Ängsten vor Berührungen aus. Im Rahmen von psychotherapeutischen Konfliktklärungen habe ich beobachten können, wie dies für von Neurodermitis betroffene Menschen am eigenen Leibe nachvollziehbar wurde. Mit nachlassender Anspannung und Ängstlichkeit gingen die Krankheitszeichen ihrer Haut zurück. Bei manchen Behandlungen von Hauterkrankungen ist neben dem Auftragen von Salben, Cremes oder Puder kein direkter Berührungskontakt möglich. Hier kann die »Therapeutic Touch«-Methode möglicherweise helfen, eine »indirekte« Form der Berührung, die mit einem über die materielle Grenze der Haut hinausgehenden, »energetischen Feld« des menschlichen Körpers arbeitet. Durch systematische Streichbewegungen soll dieses »energetische Feld« der Haut heilsam beeinflusst werden. Auch wenn diese Phänomene wissenschaftlich noch nicht schlüssig erklärbar sind, so sind die praktisch erzielten Erfolge mit dieser Behandlungsmethode vielversprechend.

       Ärztliche Berührungen

      In meiner Arbeit haben Berührungen unterschiedliche Bedeutungen gehabt. Nach dem theoretischen Studium erlernte ich Techniken der körperlichen Untersuchung. Im Rahmen der körperlichen Untersuchung wurden wir auf Qualitäten der Haut wie Farbe, Durchblutung, Feuchtigkeit und Narbenbildung hingewiesen. Wir lernten unpersönlich zu untersuchen, fast wie ein verlängertes Sehen.

      Die ärztliche Untersuchung des entblößten Körpers erscheint uns heute selbstverständlich. Eine ganzkörperliche Untersuchung ist in der Medizin erst schrittweise seit Beginn des 19. Jahrhunderts zur Praxis geworden. Zuvor wurde eine körperliche Untersuchung als verschroben oder gar anzüglich verstanden (Roy Porter). Lange war es üblich, dass Ärzte mit ihrem Ohr direkt auf dem Körper der Patienten dessen innere Geräusche abhörten. Einen Wendepunkt brachte hier die Entwicklung des Stethoskops durch den französischen Arzt René Laennec im Jahr 1819.

      Ende des 18. Jahrhunderts hatte der Österreicher Leopold Auenbrugger eine Klopftechnik zur Verwendung des Körperschalls in der Diagnostik von Hohl- und Festorganen in der medizinischen Untersuchung entwickelt. In »lauschender Berührung« (Anna Harris) lernen Ärzte und Ärztinnen die »hohl und dumpf klingenden Körperräume« zu entdecken, Strukturen von Rippen und Lunge zu finden sowie Organe und Körperhöhlen durch deren Klang und Widerhall zu vermessen.

      Die körperliche Untersuchung ist eine ritualisierte Einführung in das, was es bedeutet, Arzt oder Patient zu sein. Sie bestätigt das Recht der Ärzte, fremde Körper zu berühren sowie diagnostisch oder intervenierend in deren Inneres vorzudringen.

      Das Erlernen von ärztlichen Untersuchungs- und Berührungstechniken ist ein weitgehend unpersönlicher und distanzierter Prozess. Im Vordergrund der ärztlichen Berührungen stehen Objektivierung, Ethik und Hygiene. Ich erinnere mich nicht, dass während meiner ärztlichen Ausbildung über heilsame Qualitäten von Berührungen sowie über die Bedeutung von Nähe, Kontakt oder Verbindung gesprochen wurde.

      Heute


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