Der eigen-sinnige Mensch - eBook. Helmut Milz
den bezeichnet, der Sapor, also Geschmack, hat, dem der Geschmackssinn wichtig ist, das schmeckende Tier, und erst dann den, der durch Urteilskraft, Verstand oder Weisheit zum Menschen geworden ist, den sprechenden Menschen. (…) Die Weisheit kommt nach dem Geschmack, sie kann nicht ohne ihn kommen, aber sie vergisst ihn.«
Unterstützung für die philosophische Bedeutung des »Homo Sapor« kam aus anderen Wissenschaften. So zog der britische Zoologe und Neurophysiologe John Z. Young 1968, aufgrund seiner tierexperimentellen Untersuchungen in einem Vortrag über den »Einfluss des Mundes auf die Evolution des Gehirns« die Schlussfolgerung: »Die Tatsache, dass Gehirn und Mund sich beide am selben Ende des Körpers befinden, ist nicht so trivial, wie es scheint.« Dann wurde er grundsätzlicher: »Kein Tier kann ohne Essen leben. Die logische Konsequenz daraus ist, dass die Nahrung den wichtigsten Einfluss auf die Entwicklung der Organisation des Gehirns und des Verhaltens hat, das die Gehirnorganisation vorschreibt.«
Als John Z. Young dies anmerkte, war das Interesse an der Hirnforschung noch kaum verbreitet. Erst dreißig Jahre später begann eine intensivere Beschäftigung mit dem Geruchs- und Geschmackssinn Fahrt aufzunehmen. Dies hing mit neuen molekularbiologischen und gentechnischen Untersuchungsmöglichkeiten sowie mit neuen bildgebenden Techniken wie Computertomografie und Magnetresonanz zusammen. Heute sprechen Forscher davon, dass der Geschmack sich aus dem Zusammenspiel sinnlicher Wahrnehmungen sowie deren Interpretation zu einer Gestalt im Gehirn entwickle. Der Philosoph und Gastrosoph Harald Lemke prägte den Begriff der »Essthetik« für den seiner Ansicht nach »organlosen Sinn« des Geschmacks, der sich nicht ausschließlich über die Sinnesphysiologie beschreiben lasse. Für ihn ist Schmecken eine andere Art des Erkennens.
Geschmack bezieht viele Sinnesqualitäten zugleich mit ein.
Der französische Jurist und Geschmacksphilosoph Jean Anthelme Brillat-Savarin schrieb 1826 in seiner Physiologie des Geschmacks: »Man kann alle Arten von Gemeinschaften um den Tisch versammelt finden: Liebe, Freundschaft, Familie, aber auch Geschäft, Spekulation, Macht, Aufdringlichkeit, Vorsitz und Schirmherrschaft, Ehrgeiz und Intrige. All diese Gäste am gemeinsamen Essenstisch allem ein sozialer Sinn ist. In allen Kulturen nehmen Gastmahle eine wesentliche gemeinschaftsstiftende Funktion ein. Der Soziologe Norbert Elias hat ausführlich über die Bedeutung des Essens für die Entwicklung der modernen Zivilisation gearbeitet. Jeder weiß, welche wichtige Rolle Manieren, Sitten, Höflichkeit, aber auch Ekelgefühle »bei Tisch« haben. Gemeinsames Essen dient darüber hinaus als Erinnerung an Opfergaben oder zu religiösen Ritualen, man beeinflussen, wie es uns schmeckt. Die Herausforderung besteht also darin, die Nahrung untereinander zu teilen und so vielleicht durch den gemeinsamen Genuss des Essens friedlichere Lösungen zu finden.« Auch die amerikanische Kulturwissenschaftlerin Diane Ackerman betont, dass der Geschmackssinn vor denke an Tauffeiern und Leichenschmaus, sowie zu Nationalgerichten oder der Pflege von traditioneller, lokaler Küche.
Geschmack und Essen sind vielfach mit Erinnerungen, Situationen, Belohnungen und Verboten verbunden. Auch wenn die Grundrichtungen unseres Geschmacks (süß, salzig, sauer oder bitter) angeboren sind, so werden sie von ersten Erfahrungen an der Mutterbrust, über »Szenen am Esstisch« der Familie, kulturelle Sitten der Gesellschaft, nicht zuletzt von modernen Esspraktiken infolge der industriellen Nahrungsmittelproduktion anerzogen, erlernt und bleiben veränderbar.
Die Entfaltung des Geschmacks beim Essen braucht Zeit und Lust. Seine sinnlichen Dimensionen und verführerischen Qualitäten stehen häufig am Anfang des Kennenlernens von Liebespaaren. Eine Einladung zum Essen wird zum Vorspiel »für mehr«. Im Austausch von Speichel durch Zungenküsse wird die Intimität der eigenen Mundhöhle gemeinsam geteilt.
In der biblischen Geschichte werden Adam und Eva durch die Verführung des verbotenen Apfels zum Sündenfall gelockt. Die Einverleibung des Verbotenen führte bekanntlich zu ihrer Vertreibung aus dem Paradies. Heute kennen wir sinnesphysiologische Verbindungen des Geschmackssinns mit den leicht »verführbaren« Hirnzentren von Motivation und Belohnung. Diese lassen sich durch raffinierte Geschmacksverstärker, Aromen und Werbekampagnen gezielt »reizen«. Wer diesen Verführungen zu oft und zu intensiv erliegt, dem bereiten sie mögliche neue Qualen, worauf die rasch zunehmenden »neuen Epidemien« von Übergewicht und Diabetes in Industriegesellschaften hinweisen. Bertolt Brecht hat geschrieben, dass erst das Fressen komme und dann die Moral.
Der Geschmackssinn und die Ernährung können nicht losgelöst von technologischen Entwicklungen wie maschinelle Bodenbearbeitung, Pflanzenzucht, Weidehaltung, Massentierzucht, Fermentierung, Lagerung, Tiefkühltechniken oder komplexe Transportwege diskutiert werden. Mit deren Hilfe ist es in vielen Teilen der globalisierten Welt gelungen, die Ernährung großer Teile der Bevölkerung ausreichender zu gestalten.
Metaphern des Geschmacks
Im Alltag benutzen wir ein reichhaltiges Vokabular für das Schmecken. Sprachwissenschaftler eines Forschungsprojekts der Universität Zürich haben seit 2008 einen riesigen »Geschmackswortschatz« zusammengestellt. Dabei beziehen sie sich nicht nur auf Geschmacksqualitäten, sondern auch auf die Geschmacksintensität (würzig, mild, pikant, fad), darauf, wie sich eine Speise im Mund anfühlt (cremig, knusprig, knackig) sowie auf Überschneidungen von Geschmäckern oder vielfältige, vergleichende Umschreibungen wie »es schmeckt wie …«. Es wird deutlich, dass Geschmacksbezeichnungen vielschichtige Bedeutungen haben, unterschiedliche Assoziationen wecken, oft vage bleiben und dadurch viele Möglichkeiten der Verführung in der Werbung eröffnen. Ein typisches Beispiel ist der Begriff »frisch« im Zusammenhang mit Geschmack und Nahrungsmitteln. Er genießt uneingeschränkte Sympathie und umspannt ein weites sprachliches Bedeutungsfeld.
Umgangssprachliche Anwendungen des Wortes »süß« bewegen sich im Umfeld von Wohlgeschmack und Freude. Wir sprechen vom »süßen Leben« (im Italienischen von »la dolce vita«), von Momenten, die uns das Leben »versüßen«, vom »süßen Schlaf« und »süßen Traum«. Partner verwenden den Kosenamen »Süße/-r«. Manchmal kann das Ganze »zuckersüß« oder »süßlich« werden, wenn zu viel »Süßholz geraspelt« wird. Sowohl Liebe als auch Rache können in unserer Sprache »süß« sein. »Süß« kann aber auch eine negative Bedeutung haben im Sinne von geziert, weichlich, fad oder klebrig.
Redewendungen, die sich auf »salzig« beziehen, verweisen darauf, dass »dem Leben ohne Salz die Würze fehlt«. In der Bergpredigt sagte Jesus seinen Jüngern, dass sie »das Salz der Erde« seien. Salz gilt in vielen Kulturen als Symbol für Freundschaft und Treue. In früheren Zeiten war Salz auch ein Zahlungsmittel und eine sogenannte Primitivwährung. Salz war Ausdruck von Reichtum und Macht. Römischen Legionären wurde zusätzlich zu ihrem Sold Salz als »Salär« (lat. »salarium«) ausgezahlt.
Salz kommt wie Aphrodite aus dem Meer und birgt Anspielungen auf Sexualität, wie das »Salz auf deiner Haut«. Es fördert Geschmack, wo ansonsten manches fad und geschmacklos bliebe. Aber es gibt auch »gesalzene Preise«, Situationen in denen man jemandem »die Suppe versalzt« und »salzige Tränen« fließen. Salz zu verstreuen bewirkte in manchen Kulturen Angst vor drohenden Katastrophen. Im Mittelalter galt Salz als probates Mittel, um Hexen zu vertreiben, wobei man zum Schutz Salzkörner über die linke Schulter warf. Über die Möglichkeit des Verrats durch verstreutes Salz wurde hinsichtlich des von Judas umgeworfenen Salzstreuers spekuliert, wie ihn Leonardo da Vinci auf seinem berühmten Bild vom »Letzten Abendmahl« dargestellt hat. Der Literaturwissenschaftler Thomas Straessle hat eine umfangreiche Enzyklopädie über das Salz geschrieben, in der er über dessen Vorkommen als Medium und Gabe in Magie, Glauben und Sprache berichtet. Er zitiert die Dichterin Ricarda Huch: »Der Mensch kann, das wissen wir, ohne Salz nicht leben; aber ein Gericht aus purem Salz wäre tödlich.« In manchen Traditionen waren der zeitweilige Verzicht auf die Würze des Salzes und die bewusste Betonung der »Fadheit« (»blandness«) eine wichtige Weisheitsübung, wie dies der Philosoph François Jullien für das alte China beschreibt: »Der Weise genießt das Geschmacklose (wei wuwei) und beschäftigt sich mit ›Nichthandeln‹.«
Sauer macht nicht nur lustig. Wer »sauer ist«, kann heftig reagieren. Etwas »sauer Verdientes« ist mit großer Mühe verbunden. Sauer wird in Zusammenhang mit