Lesen in Antike und frühem Christentum. Jan Heilmann
schon bei dem Komödiendichter Platon reflektiert wird (vgl. Athen.Athenaios deipn. 1,8 [5b; Plato Comicus]; s.u. 3.7) und sich auch in rabbinischenrabbinisch Quellen findet (s. u. S. 378 f).
Die Deutung Gavrilovs und Krassers passt insofern besser in den Kontext, als es Augustin in dem gesamten Abschnitt darum geht, zu erklären, warum er mit seinem Anliegen (u. a. zu forschen und zu disputieren) nicht zu AmbrosiusAmbrosius von Mailand vordringen könne, und als sie sich mit Augustinus Rechtfertigungsversuchen von Ambrosius’ Verhalten deckten: Ambrosius will Rückfragen von Anwesenden vermeiden, die ihn durch eine Diskussion von der Lektüre abhalten; er wolle sein Lesepensum schaffen; er will seine StimmeStimme schonen. Die vermeintliche Singularität der „leisenLautstärkeleise“ Lektürepraxis wird sodann sogar im Rahmen des Gesamtwerkes der Confessiones relativiert, wozu Gavrilov auf zwei Stellen verweist:45
1) Aug.Augustinus von Hippo Conf. 8,13–15 enthält eine Erzählung des Ponticianus über das Leben des ägyptischen Mönchs Antonius. Im Rahmen dieser Erzählung berichtet Ponticius exkursartig von einem Gartenspaziergang mit drei Freunden in Trier, bei dem sie in einer Hütte einen KodexKodex mit der Vita des Antonius gefunden haben. Einer der Begleiter von Ponticius habe darin zu lesen begonnen, wodurch ein Bekehrungserlebnis ausgelöst worden sei; sein Lesen ist eindeutig als „leises“ Lesen markiert: „er heftete die AugenAugen wieder auf die Seiten (reddiditredeo oculos paginis); und er las und ward innerlich umgewandelt, da Du es sahst …“ (Aug. Conf. 8,15). Bevor Ponticius dies erzählt, hat er auf dem Spieltisch vor Alypius und Augustinus einen Kodex gefunden, den er geöffnet und darin den Apostel Paulus gefunden hat (tulit, aperuit, invenit apostolum Paulum [Aug. Conf. 8,14]). Die Formulierung quod eas et solas prae oculis meis litteras repente comperisset (Aug. Conf. 8,14) deutet auf „leises“ Lesen hin. 2) In der berühmten Gartenszene in Conf. 8,29 sagt Augustinus explizit, dass er den Kodex des Apostels öffnete und das Kapitel „leiseLautstärkeleise“ las,46 auf das seine Augen zuerst fielen (ibi enim posueram codicem apostoli, cum inde surrexeram. arripui, aperui, et legi in silentio capitulum, quo primum coniecti sunt oculi mei).47 3) Neben diesen beiden Stellen kann man auch noch weitere aus den Confessiones anführen, die „leises“ Lesen implizieren. Vgl. Aug. Conf. 6,6 und das Motiv des „inneren OhresOhrinneres“ (auris interior).48
Anders als Knox geht Gavrilov in seiner Beurteilung des Befundes noch weiter und konstatiert in Opposition zur communis opinio: „[S]ilent reading was a quite ordinary practice for wide circles of the free population of classical Athens, and possibly for earlier periods too.“49 Die von Knox angeführten Quellen, seine Analyse des locus classicus bei Augustinus und die in seinem Appendix genannten Quellen zeigten: „first, the ordinariness of reading to oneself from the classical Greek to the late Roman periods, and second, the idea that such reading is more concentrated and quicker.“50 Diese Sicht wurde dann auch von F. M. Burnyeat übernommen,51 der die Diskussion um einige weitere Quellen bereichert – u. a. mit dem Hinweis auf eine Stelle aus dem Werk des Mathematikers Ptolemaios (2. Jh. n. Chr.), der in Ptol.Ptolemaeus, Claudius krit. 5,1f eine generelle Aussage über die Praxis des „leisenLautstärkeleise“ Lesens (zumindest in Bezug auf ein Lesen mit Forschungsinteresse) macht.
Die entscheidenden Sätze in der englischen Übersetzung von HUBY und NEAL lautenLautstärkelaut: „… it tends to be in states of peace and quiet that we discover the objects of our inquiry, and why we keep quiet when engaged in the readings themselves [… ἔν τε ταῖς ἠρεμίαις καὶ ταῖς ἡσυχίαις μᾶλλον εὑρίσκομενεὑρίσκω τὰ ζητούμενα καὶ κατὰ τὰς ἀναγνώσεις αὐτάς; scil. die Lektüren als Gegenstand der Forschungen] if we are concentrating hard on the texts before us. What talk is useful for, by contrast, is passing on the results of our inquiries to other people.“
Außerdem weist er darauf hin, dass auch Stellen, an denen auf ein unbewusstes Lesen rekurriert wird, implizieren, dass diese LeserLeser „leiseLautstärkeleise“ gelesen haben müssen.
Vgl. insb. Plot.Plotin enn. 1,4,10: „So braucht der Lesende kein Bewusstsein davon zu haben, dass er liest, namentlich dann, wenn er angespannt liest.“ (Üb. MÜLLER; Οὐ γὰρ τὸν ἀναγινώσκοντα ἀνάγκη παρακολουθεῖν ὅτι ἀναγινώσκειἀναγιγνώσκω καὶ τότε μάλιστα, ὅτε μετὰ τοῦ συντόνου ἀναγινώσκοι·); diese Stelle ist insofern aufschlussreich, als Plotinos hier ausgerechnet das Lesen als Beispiel für eine unbewusste Handlung heranzieht, zudem impliziert die Formulierung μετὰ τοῦ συντόνου eine hohe IntensitätAufmerksamkeitvertieft der kognitivenkognitiv Aufmerksamkeit, semantisch kann es auch den Aspekt von GeschwindigkeitLese-geschwindigkeit enthalten;52 vgl. außerdem Plut.Plutarch soll. an. 3 (mor. 961a; s. u. S. 196 f); Aug.Augustinus von Hippo trin. 11,8,15 (s. u. Anm. 356, S. 197).
Daneben vertritt auch C. Burfeind in einer Miszelle in der ZNW die These, dass einsame LeserLeser in der Antike „für gewöhnlich leiseLautstärkeleise und nicht gewohnheitsmäßig lautLautstärkelaut“53 lasen. Er führt zusätzlich zu den schon von Knox und Burnyeat diskutierten Quellen ins Feld, dass die Stellen, die vom „lauten“ VorlesenRezeptionkollektiv-indirekt handeln, keine LesekulturLese-kultur des einsamen Lautlesers zeigten, sondern von einer Kultur des Vorlesens. Dies versucht er exemplarisch v. a. an Carm. Priap.Priapea 68,3f54 und Act 8,28–30Act 8,28–30 zu belegen. Beide Stellen seien so zu verstehen, dass sowohl der Kämmerer als auch der Herr der Priapenstatue nicht selbst laut lasen, sondern dass ihnen laut vorgelesen worden sei. Schon hier sei darauf hingewiesen, dass Burfeinds Interpretation von Act 8,28–30 unten kritisch zu diskutieren sein wird (s. u. 8.2.2). Darüber hinaus hat D. T. Benediktson auf einige Mahlszenen hingewiesen, bei der mit Liebesbotschaften „mit den Fingern, mit Wein notiert“ (vgl. Ov.Ovidius, P. Naso am. 1,4,19f)55 ohne stimmlicheStimme RealisierungStimmestimmliche Realisierung gelesen werden,56 und damit die Quellenbasis der Diskussion etwas verbreitert.
Trotz bedenkenswerter Argumente und einer breiten Quellenevidenz sind die Positionen von Knox (es wurde nicht grundsätzlich nur „laut“Lautstärkelaut gelesen), aber vor allem von Rösler, Gavrilov, Burnyeat und Burfeind (der einsame LeserLeser hat in der Regel „leiseLautstärkeleise“ gelesen) Außenseiterposition geblieben.57 Zwar zeichnet sich mittlerweile ab, dass die Extremposition, in der Antike habe man grundsätzlich „laut“ gelesen, von der sich Knox und die anderen distanziert haben, in einigen Publikationen ebenfalls kritisch gesehen wird.58 Aber vor allem die Pendelbewegung in das andere Extrem, in der Antike habe der einsame Leser prinzipiell „leise“ gelesen, hat großen Widerstand ausgelöst. So hat S. Busch in einem 2002 veröffentlichenPublikation/Veröffentlichung Artikel auf einer Durchsicht der bekannten und einiger, der Diskussion neu hinzugefügten Quellen ausführlich zu zeigen versucht, dass „[d]as laute Lesen […] der Antike als Normalfall gegolten“59