Lesen in Antike und frühem Christentum. Jan Heilmann
Notwendigkeit erwachsene Abweichung vom Regelfall.61 Es bleibt festzuhalten, dass sich an der communis opinio, das „laute“ Lesen wäre in der Antike der Normalfall, das „leise“ Lesen die markierte Ausnahme gewesen, eigentlich nichts geändert hat.62 An der Argumentation von Busch lassen sich im Folgenden anschaulich die methodischen Grundprobleme der Debatte um das „laute“ und „leise“ Lesen aufzeigen.
1.3 Methodische Engführungen und Defizite der bisherigen Forschung
Das Hauptproblem der skizzierten Debatte um das „lauteLautstärkelaut“ und „leiseLautstärkeleise“ Lesen ist das dahinterliegende Erkenntnisinteresse, den Normalmodus der antiken LesepraxisLese-praxis zu rekonstruieren. Methodisch ist die Debatte maßgeblich dadurch gekennzeichnet, dass diejenigen, die für den „Normalmodus“ der „lauten“, vokalisierendenStimmeinsatzvokalisierend Lektüre plädieren, die Quellen, in denen „leise“ Lektüre bezeugt ist, als quantitativ nicht relevante Ausnahme1 bzw. als bewusst markierte Sonderfälle2 interpretieren und die „Vielzahl“ der Belege für das „laute“, vokalisierende lesen demgegenüber quantifizierend gegenüberstellen, um ihre Position zu bekräftigen. Die Minderheitenposition versucht hingegen, die Belege für das vokalisierende Lesen kontextuell zu erklären und ihrerseits quantifizierend zu zeigen, dass insbesondere nicht-literarische Texte im Normalfall „leise“, nicht-vokalisierendStimmeinsatznicht-vokalisierend gelesen wurden. Von Seiten der Mehrheitsposition wird diesem Verfahren dann wiederum vorgeworfen, Einzelfälle in unzulässiger Weise zu verallgemeinern.3 Diesen Vorwurf kann man der Mehrheitsposition hingegen auch machen.4
Aus methodologischer Sicht ist der zugrundeliegende Ansatz zu hinterfragen, auf der Basis quantifizierender Quellenauswertungen (Welcher Lesemodus ist häufiger belegt?) eine Antwort auf die Frage zu erhalten.5 Auch wenn mehr LeseszenenLese-szene der vokalisierendenStimmeinsatzvokalisierend Lektüre überliefert sind – was m. E. überhaupt nicht sicher ist –, so kann daraus noch lange kein „Normalfall“ rekonstruiert werden, da z.B. ein Übergewicht von Quellen, die das soziale Phänomen „VorlesenRezeptionkollektiv-indirekt“ thematisieren, aus Gründen des Darstellungsinteresses erwartbar ist. Hinzu kommt, dass zahlreiche der von der Mehrheitsposition angeführten, vermeintlich sicheren Belege für den Normalmodus des „lautenLautstärkelaut“ Lesens im Hinblick auf ihren Quellenwert für die gestellte Forschungsfrage kritisch diskutiert werden können, wie nicht zuletzt die Diskussion um den locus classicus bei Augustinus und die Diskussion der von J. Balogh angeführten Quellen durch B. M. Knox (s. o.) schon gezeigt haben.
Aber auch aus Quint.Quintilian inst. or. 10,3,28 kann nicht geschlossen werden, dass die „nächtliche einsame Lektüre lautLautstärkelaut gedacht“6 wird. Zunächst erscheint es mir unsicher, ob sich Quintilians Ausführungen in 10,3,28 überhaupt noch auf das das Thema Nachtarbeit (lucubrationeslucubratio; vgl. Quint. inst. or. 10,3,25–27) oder nicht viel eher auf das Thema Ablenkung beim Arbeiten allgemein beziehen. Gegen ersteres spricht die Formulierung deplorandus dies, für letzteres sprechen Quintilians Ausführungen in 10,3,29f, die sich nahtlos anschließen und das Arbeiten bei Tag thematisieren. Zudem ist in 10,3,28 von Lektüre überhaupt nicht die Rede: Die Formulierung „was uns vor die AugenAugen und OhrenOhr kommt“ ist nicht auf eine vermeintliche Lektüretätigkeit bezogen, bei der das „laut“ Gelesene mit den Augen und Ohren rezipiert würde, wie Busch die Stelle missversteht. Vielmehr meint es im Satzzusammenhang das, was einen potentiell ablenken könnte, bei konzentrierter Arbeit jedoch gerade nicht ins Innere gelangt und bei der Arbeit stört: „wenn man sich mit voller geistiger Kraft nur auf die Aufgabe konzentriert, wird nichts von dem, was uns vor die Augen oder OhrenOhr kommt (quae oculis vel auribus incursant), in unser Inneres gelangen“ (10,3,28; Üb. RAHN). Auch ergibt es sich m. E. keinesfalls „zwingend aus dem Zusammenhang“,7 dass CiceroCicero, Marcus Tullius in Cic. fam. 9,20,3 bei seinen Lese- und Schreibstudien nach der Morgensalutatio generell „laut“ lese und schreibe.8 So ist es hier weder syntaktisch noch inhaltlich eindeutig, ob diejenigen, die zum Zuhören kommen (ueniunt etiam qui me audiuntaudio quasi doctum hominem quia paulo sum quam ipsi doctior), ihm bei seinen Morgenstudien „zuhören“ oder ob sich dieser Satz vielleicht auch auf ein leicht modifiziertes Programm nach der Morgensalutatio bezieht, bei dem Cicero sich als Intellektueller inszeniert, falls Leute anwesend sind. Aus dem Hinweis Ovids (Pont. 3,5,7–14), er habe eine Rede seines Freundes Cotta „viele Stunden hindurch mit eilender Zunge gelesen (lingua mihi sunt properante per hora lectalego satis multas)“, geht gerade nicht hervor, dass er eindeutig „laut“ gelesen habe, wie Busch schlussfolgert.9 Vielmehr kann diese Stelle ebenso gut, wegen des Hinweises auf die Schnelligkeit sogar wahrscheinlicher, auf subvokalisierendesStimmeinsatzsubvokalisierend Lesen hindeuten. Theoretisch kann auch die Formulierung „ich werde im Mund des Volkes gelesen“ (ore legar populi, Ov.Ovidius, P. Naso met. 15,878) subvokalisierende Lektüre meinen, wobei allerdings das „laute“ Lesen aus ästhetischen Gründen ebenso denkar wäre.10 Auch wenn HorazHoraz von Gedichten spricht, „die die Augen und Ohren (oculos aurisque) des KaisersKaiser/Princeps fesseln könnten“ (Hor. ep. 1,13,17f), können damit ebenso zwei Rezeptionsmodi – das selbständige Lesen und das Hören der Lektüre durch einen VorleserVorleser – gemeint sein; auch ein Verweis auf das innere Ohr ist denkbar, aber weniger wahrscheinlich (s. dazu u. mehr). Gleiches gilt für Ov. Pont. 4,5,1f. Interessant sind Buschs Verweise auf die fingierten Gespräche zwischen dem Toten und dem antizipierten LeserLeser der InschriftInschriften sowie das Motiv des Leihens der StimmeStimme, das sich zuweilen auf Grabinschriften findet.11 Dass diese Grabsprüche nur ‚funktionierten‘, „wenn laut gelesen wird“12 bzw. dass sie „geradezu mit dem Brauch des lauten Lesens“13 spielten, ist jedoch aus dem Befund nicht zwingend zu schließen. Vielmehr scheint mir dieses Gestaltungscharakteristikum von antiken Grabinschriften ein Topos zu sein, der mehr über den Verstorbenen als über die antike Kultur des Lesens sagt. Die Vorstellung, dass die Menschen angesichts der Vielzahl der Inschriften, mit denen sie alltäglich konfrontiert waren, diese laut gelesen haben, mutet schon ein wenig absurd an und steht in einer Spannung zur weiten Verbreitung der Rezeption von Inschriften mit dem Lesekonzept der visuellenvisuell Wahrnehmung (s. u. 3.8). Moderne Werbeplakate sind im Übrigen auch häufig als Dialog mit der antizipierten Zielgruppe gestaltet; und aus dem Topos des Stimme-Leihens spricht die Hoffnung des Verstorbenen auf eine aktive ErinnerungErinnerung bzw. auf eine posthume Bedeutung im Diesseits.
Zudem sind einige weitere Vorannahmen zu nennen, die der Mehrheitsposition zugrunde liegenHaltungliegen und zum Teil thetisch gegen die Minderheitenposition in Stellung gebracht werden, aber aus meiner Sicht eben keine sichere methodische Grundlage dafür liefern, um die Frage nach einem „Normalmodus“ des Lesens in der Antike zu beantworten. Dies ist im Folgenden exemplarisch für viele am Beitrag von Busch in gebotener Kürze zu verdeutlichen, um auf dieser Grundlage dann den neuen Ansatz und die Fragestellung der vorliegenden Studie herauszuarbeiten.
1.3.1 Geschriebenes als Abbild des Gesprochenen?
InSchriftGeschriebenes der Antike sei das Geschriebene generell als Abbild