Lesen in Antike und frühem Christentum. Jan Heilmann
have been illiterate.“13
Es ist hervorzuheben, alle quantitativen Schätzungen bleiben hochgradig hypothetisch; aus der Quellenlage (insbesondere bezüglich der „Bildungsinstitutionen“) lassen sich m. E. keine großflächigen quantitativen und statistisch validen Daten ableiten. So gibt es zwar zahlreiche Quellen, die Illiteralität für spezifische Personen belegen.14 Angesichts der Verstreutheit des Befundes, lassen diese aber keine quantifizierbaren Schlussfolgerungen zu,15 sondern sie zeigen, dass es Illiteralität in der Antike gab und dass diese sich über verschiedene Bevölkerungsgruppen erstreckte. Zudem muss man auch in der Antike verschiedene Level von LesefähigkeitLese-fähigkeit (s. auch Literalität) differenzieren und in Rechnung stellen, dass Lesekompetenz immer in Relation zum Schwierigkeitsgrad von Texten zu bestimmen ist.16 Dies muss auch für die quellensprachliche Ebene in Rechnung gestellt werden. z.B. muss die Charakterisierung ἀγράμματοςἀγράμματος nicht immer eine vollständigeUmfangvollständig Illiteralität meinen. So ist es sicher bezeugt, dass das Adjektiv in dokumentarischen PapyriPapyrus aus Ägypten meint, dass jemand des Griechischen nicht mächtig ist, aber sehr wohl der ägyptischen Sprache.17
Dies bedeutet im Hinblick auf Act 4,13Act 4,13, dass hier vermutlich auch nur die fehlende griechische Bildung der erzählten Figuren Petrus und Johannes im Blick ist, sich die Leserinnen und LeserLeser aber vorstellen konnten, dass diese ihre Muttersprache auch in der Schrift beherrschten.18 Laut P. Gemeinhardt liegt gerade darin die Pointe: „Wenn in Apg 4,13 Petrus und Johannes mit ihrer freimütigen RedeRede (παρρησία) deshalb Eindruck machen, gerade weil sie als ἄνθρωποι ἀγράμματοίἀγράμματος εἰσιν καὶ ἰδιῶται gelten, bedeutet das nach antikem Verständnis nicht, dass sie Analphabeten waren […], sondern dass sie nach den Maßstäben […] keine Inhaber von παιδεία waren – und deshalb gar nicht zu kunstgerechter und wirkmächtiger öffentlicherÖffentlichkeitöffentlich Rede befähigt sein dürften!“19
An Harris’ Bild einer weitgehend illiteraten Gesellschaft über die gesamte Antike hinweg ist in unterschiedlicher Form Kritik geübt worden.20
A. K. Bowmanns Auswertung der Funde von VindolandaVindolanda-Tafeln bezüglich der LiteralitätLiteralität/Illiteralität in der römischen Armee in der nördlichsten Peripherie des Reiches verdeutlichen, dass Literalität für Offiziere und UnteroffiziereSoldaten anzunehmen, aber selbst für niedrigere Ränge belegt ist, und dass die Größe des Befundes ein breites Netzwerk lesefähiger Menschen über die Schichtengrenzen hinaus voraussetzt.21 Auch die in den 2010er Jahren in London gefundenen „Bloomberg-TabletsBloomberg-Tablets“ lassen eine etwas optimistischer Sicht auf die Literalität in der Provinz Britannien zu.22 Die große Bedeutung von Lesen und SchreibenSchreiben in der römischen Armee wird durch weitere Quellen bestätig, u. a. durch Funden aus Nubien23 und Ägypten.24 Zu verweisen ist außerdem auf die mehr als 11.000 in Pompeji gefundenen Graffiti, die eine höhere Literalitätsrate vermuten lassen und auch Lese- und Schreibfähigkeit in unteren Schichten belegen.25 E. G. Epp fragt angesichts des Papyrusbefundes von Oxyrhynchos, ob für diese Stadt die Schätzungen von 10–20% Literalitätsrate wirklich ausreiche.26 Die Untersuchungsergebnisse von H. Krasser, der auf „die immense Zunahme der Informationen zu Büchern und Lesern“ in der Kaiserzeit hinweist, dass in dieser Zeit „eine Bewußtseinsveränderung im Umgang mit Bildungsgütern nahe[liegt], die mit einiger Wahrscheinlichkeit über den engen Kreis der kulturellen ElitenElite hinausgreift“.27 In Harris’ Studie findet sich dazu nur der Hinweis, es sei wahrscheinlich, dass angesichts des epigraphischenEpigraphik Befundes seit der augusteischen Zeit im Römischen Reich der Anteil an der Gesamtbevölkerung derjenigen, die lesen und schreiben konnten, leicht gestiegen wäre.28 Selbst die pessimistische Einschätzung der Schreib- und LesefähigkeitLese-fähigkeit (s. auch Literalität) auf dem Land ist aus der Perspektive von unzähligen KleininschriftenInschriftenKlein- und der Bedeutung von schriftlicher Kommunikation für die Wirtschaft im ländlichen Raum (insb. in den Grenzprovinzen) zu hinterfragen. „Es deutet sich […] an, dass die SchriftlichkeitSchrift-lichkeit auf dem Lande nicht weniger verbreitet war als in Städten, Vici und Militärlagern.“29
Auch der statistische Befund mahnt zur Vorsicht, das Phänomen Illiteralität nicht überzubewerten: So stehen im Corpus des TLG (bis zum 4. Jh. n. Chr.) knapp 100 Belegstellen für das Adjektiv ἀγράμματοςἀγράμματος mehr als 4200 Belegstellen allein für das griechische HauptleseverbHauptleseverb ἀναγιγνώσκωἀναγιγνώσκω gegenüber. Zusätzlich sei auf eine Stelle bei Lukian hingewiesen, der die Lese- und Schreibfähigkeit als das Allgemeinste (τὸ κοινότατον) bezeichnet und damit die vollständigeUmfangvollständig Illiteralität als Ausnahme markiert (vgl. Lukian.Lukian von Samosata rh. pr. 14).
Auch die These, in der griechisch-römischen Antike stellten Lesen und SchreibenSchreiben zwei unterschiedliche Lernziele und Spezialisierungen dar und das Können der einen Kulturpraxis impliziere noch nicht die Fähigkeit auch der anderen,30 ist insbesondere angesichts der häufigen gemeinsamen Nennung der beiden Praktiken kritisch zu hinterfragen.31 Da das Verhältnis zwischen Lesen und Schreiben jedoch nicht in den Untersuchungsbereich dieser Studie fällt, kann dies hier nicht weiter ausgeführt werden.
Für das frühe ChristentumChristentum hat sich U. Schnelle in einem 2015 erschienenen Aufsatz ausführlich mit der Frage nach der LiteralitätLiteralität/Illiteralität des frühen Christentums befasst. Er weist u. a. auf folgende Aspekte hin, die es wahrscheinlich machen, dass man für die griechisch-römische Welt des 1./2. Jh. n. Chr. insgesamt, aber auch für das frühe Christentum, einen höheren Grad an Literalität annehmen müsse: 1) Die Allgegenwart von SchriftlichkeitSchrift-lichkeit in den Städten des Römischen Reiches in der Kaiserzeit setzt zumindest eine elementare Schreib- und LesefähigkeitLese-fähigkeit (s. auch Literalität) bei einem Großteil der Bevölkerung voraus.32 Hier wäre zu ergänzen, dass insbesondere die Beteiligung der Menschen an Wirtschaft und Handel, ausweislich der zahlreichen, damit in Zusammenhang stehenden schriftlichen Überreste, Lese- und vielfach auch Schreibkenntnisse notwendig machte.33 2) Der Zusammenhang zwischen Bildung und sozialer Stellung war nicht so groß, wie vielfach angenommen wird,34 sodass man keine Rückschlüsse von der sozialen Stellung auf den Grad an Literalität ziehen kann.35 3) Speziell in Bezug auf das Christentum verweist Schnelle auf den städtischen Kontext der meisten bekannten GemeindenGemeinde der Abfassungszeit, auf die expliziten Belege in den paulinischen BriefenBrief über Lese- und Schreibfähigkeit (Rezeption des ATAT/HB/LXX, SekretärSekretär [Röm, 16,22Röm 16,22], Lesen mit eigenen AugenAugen [Gal 6,11Gal 6,11: 1Kor 16,211Kor 16,21; Phlm 19Phlm 19]; Tätigkeit von LehrernLehrer [1Kor 12,281Kor 12,28; Gal 6,6Gal 6,6; Röm 12,7Röm 12,7b; Act 13,1Act 13,1]; argumentativer Anspruch der Briefe, der aus ihrer literarisch-rhetorischen Qualität und philosophischerPhilosophie Denkfiguren erwächst36) und auf die Mehrsprachigkeit vieler Gemeindemitglieder.37 Zudem betont er, dass die EvangelienEvangelium von einer schnellenLese-geschwindigkeit Literarisierung von JesusJesus berichten, und er hebt den hohen Grad an Literaturproduktion und die innovative sprachschöpferische Kraft hervor, die überall in den Texten des NT zu finden sind.38 Dies zeige, dass neue Mitglieder „schon relativ früh in eine bereits ausgebildete Lehr- und Sprachwelt“ eintraten und daher in den Gemeinden „ein relativ hohes intellektuelles Niveau vorauszusetzen“39 ist.
Schnelle argumentiert außerdem, dass ein großer Teil der frühen Christen „aus dem Einflussbereich des JudentumsJudentum [kam], das eine höhere Alphabetisierungsrate als der Durchschnitt des Römischen Reiches aufwies.“40 Die mit Schnelles Argument verbundene, weit verbreitete These eines besonders hohen LiteralitätsgradesLiteralität/Illiteralität im antiken Judentum ist in den vergangenen Jahren in der Forschung allerdings in Frage gestellt worden.41 Diese neue pessimistische Sicht auf den Literalitätsgrad im antiken Judentum korrespondiert mit der These, dass weite Teile der jüdischen Bevölkerung keinen direkten Zugang zu TorarollenTora hatten bzw. diese nur für die Priester und ElitenElite zugänglich waren. Diese These basiert nicht nur weitgehend auf argumenta e silentio. Auch dass die Textfunde vom Toten Meer als abseitige Ausnahme interpretiert werden müssen, ist aus methodischer Sicht problematisch.42 Insbesondere die