Lesen in Antike und frühem Christentum. Jan Heilmann

Lesen in Antike und frühem Christentum - Jan Heilmann


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…; IG XII 3 48,1 f).6 In einer christlichen Inschrift aus der ersten Hälfte des 3. Jh. n. Chr. aus Lykaonien findet sich analog: „Wenn du dieses Grabmal beschaust, wirst du wissen, wen das Grab festhält: den edlen Sohn des Photinos, den vortrefflichen Diomedes, der mit seinem Tod sein Vaterland betrübte.“ (σῆμα τόδ’ ἀθρήσας εἴσῃ τίνα τύνβος ἐρύκι· Φωτινοῦ τέκος ἐσθλὸν ἀρίζηλον Διομήδην …; MAMA 7 560,1–4 = ICG 349, Üb. HUTTNER [leicht modifiziert JH]). Aus der syntaktischen Konstruktion geht eindeutig hervor, dass ἀθρέω hier bedeuten muss, dass der Betrachter die Inschrift liest, damit er wissen (οἶδα) kann, wer hier begraben liegt. S. die ganz ähnliche Formulierung in SEG 6 297,1f = ICG 352. Vgl. außerdem exemplarisch SEG 40 1105,2f; MAMA 7 553,1f (=ICG 345); MAMA 7 558,1 (=ICG 347).7 S. ferner außerdem die oben schon besprochene Bestimmung zur Veröffentlichung im Edikt über das Aurum Coronarium in P.Fay. 20 col. 2, Z. 23, in der mit σύνοπτος ein Adjektiv der visuellen Wahrnehmung verwendet wird.8

      ad b) Schon bei Herodot findet sich ein verbum vivendi in Bezug auf eine InschriftInschriften: „Ich selbst habe gesehen solche BuchstabenBuch-stabe aus der Zeit des Kadmos [scil. phönizische Buchstaben] (εἶδονεἶδον δὲ καὶ αὐτὸς Καδμήια γράμματαγράμματα) im Tempel des Apollon Ismenios im boiotischen Theben“ (Hdt.Herodot 5,59).9 Es ist zwar richtig, dass Herodot hier in erster Linie auf das archaische Aussehen der Schrift verweist. Wie das nachfolgende ZitatZitat einer der auf einem Dreifuß eingeritzten Inschriften zeigt, impliziert das SehenSehen allerdings auch das Lesen derselben.10 In Aristophanes’ Σφήκες sagt Xanthias über seinen Herren: „Wenn er irgendwo an einer Tür geschriebenSchriftGeschriebenes sieht ‚Schön ist Demos, der Sohn Pyrilampes’ (ἢν ἴδῃ γέ που γεγραμμένονγράφω υἱὸν Πυριλάμπους ἐν θύρᾳ Δῆμον καλόν), wird er darunter schreibenSchreiben ‚Schön ist Cemos,‘“ (Aristoph.Aristophanes Vesp. 97). Das Sehen impliziert hier eindeutig, dass das Graffito auch gelesen wird.11 In den Mimiamben des HerodasHerodas aus dem 3. Jh. v. Chr. findet sich eine Szene, in der zwei Frauen ein Opfer in das Asklepieion von Kos bringen und während der Opferung über die Kunstwerke sprechen. Dabei fällt der Freundin Kynnos zunächst ein großes Marmorwerk ins Auge und sie fragt, wer es geschaffen und wer es aufgestellt habe. Darauf antwortet Kynno: „Die Söhne des Prexiteles; siehst Du nicht jene Inschrift auf dem Sockel? (οὐκ ὀρῆις κεῖνα ἐν τῆι βάσι τὰ γράμματ’) Euthies aber hat es aufgestellt, der Sohn des Prexon“ (Herodas 4,23–25; Üb. MEISTER). Das Verb ὁράωὁράω meint hier so viel wie: „Hast Du noch nicht gelesen?“ Denn Kynno geht anscheinend selbstverständlich davon aus, dass ihre Freundin die Inschrift potentiell lesen kann, diese bisher aber offensichtlich nur noch nicht wahrgenommen hat. Dies ist insofern aufschlussreich, als es sich bei den Frauen – wie insgesamt in den Mimiamben – um Personen aus den mittleren und unteren Schichten handelt, wie in diesem Fall an der Opfergabe sichtbar wird (vgl. Herodas 4,10–19).12 Auch die bemerkenswerte Kombination aus Bewegungsbildlichkeit und visuellervisuell Wahrnehmung (s. o. 3.7) findet sich in Bezug auf das Lesen von Inschriften in den Quellen. So finden sich die folgenden Ausführungen in Plutarchs Περὶ πολυπραγμοσύνης: „Ein Hauptmittel, sich von dieser Leidenschaft [der Neugier] zu befreien, liegt in der Gewöhnung, wenn wir schon von früh her anfangen, uns selbst zu dieser Enthaltsamkeit zu üben und anzuleiten; […] Wir wollen erst mit den geringsten und unbedeutendsten Dingen den Anfang machen. Ist es etwas Schweres, auf den Wegen die Inschriften an den Gräbern nicht zu lesen? (τί γὰρ χαλεπόν ἐστιν ἐν ταῖς ὁδοῖς τὰς ἐπὶ τῶν τάφων ἐπιγραφὰς μὴ ἀναγιγνώσκειν) Oder ist es schwierig, bei Spaziergängen mit dem Blick über die Schriften an den Mauern herüberzulaufen? (ἢ τί δυσχερὲς ἐν τοῖς περιπάτοις τὰ κατὰ τῶν τοίχων γράμματαγράμματα 2 τῇ ὄψει παρατρέχειν) Wir brauchen nur daran zu denken, dass nichts Nützliches und Angenehmes darauf geschrieben steht“ (Plut.Plutarch curios. 11 [mor. 520d/e]; Üb. OSIANDER/SCHWAB, mod. JH). Gerade weil hier das Nicht-Lesen der Inschriften mit der BewegungBewegung des Blickes konzeptualisiert ist, erscheint diese Stelle interessant und belegt indirekt das Konzept VISUELLE WAHRNEHMUNG VON SCHRIFT IST LESEN. Die Stelle impliziert außerdem, dass es nicht selbstverständlich ist, Inschriften am Wegesrand zu ignorieren, sondern einer (wenn auch leichten) Übung bedarf. Dies deutet darauf hin, dass es durchaus gängig war, Inschriften im „Vorbeigehen“13 wahrzunehmen und zumindest mit einem flüchtigenAufmerksamkeitoberflächlich/flüchtig Blick das Geschriebene (teilweise) zu lesen (ἀναγιγνώσκωἀναγιγνώσκω). Vgl. ferner Plin. nat.Plinius der Ältere 35,3,12.

      Die ikonographischenLese-ikonographie Darstellungen sowie die angegebene Auswahl an literarischen Reflexionen der Wahrnehmung von InschriftenInschriften zeigt – zusammen mit den oben schon angegeben Belegen zum Lesen von Inschriften (vgl. 3.1.1, S. 111 f)14 –, dass die Einschätzung von R. Höschele zu revidieren ist, die Rezeption von Inschriften würde in der antiken Literatur kaum thematisiert. Zusätzlich zu hinterfragen ist dann ihre daraus abgeleitete Schlussfolgerung, die Menschen in der Antike hätten Texte auf Inschriften nicht gelesen bzw. weitgehend ignoriert.15

      Die weitere exemplarische Durchsicht durch den Quellenbefund ist, soweit dies sinnvoll darstellbar ist, chronologisch orientiert, wobei auf später erneut zu findende, analoge Formulierungen vorgezogen verwiesen wird und zuletzt summarisch solche Quellen genannt werden, an denen zwar das Lesen selbst nicht direkt metonymischMetonymie als SehenSehen konzeptualisiert ist, aber der enge Zusammenhang zwischen Sehorgan und Lesen deutlich wird.

      Schon im 5. Jh. v. Chr. findet sich eine aufschlussreiche Szene in Aristophanes’ Ἱππῆς, in welcher der SklaveSklave des Demos Demosthenes seinen Mitsklaven Nikias darum bittet, ihm das entwendete Schriftstück (vgl Aristoph.Aristophanes Eq. 110–115) mit einem Orakel (χρησμός) zu geben:

      „Gib’ es mir, damit ich es lese (φέρ᾽ αὐτὸν ἵν᾽ ἀναγνῶ)! Schenk mir fleißig ein inzwischen! Gib’, damit ich sehe, was darin steckt (φέρ᾽ ἴδω τί ἄρ᾽ ἔνεστιν αὐτόθι). [Anm. JH: LesepauseLese-pausen/-unterbrechung] Oh Prophezeiungen (ὦ λόγια)! Gib mir, gib den Becher schnellLese-geschwindigkeit“ (Aristoph.Aristophanes Eq. 118–120).

      Das individuell-direkteLektüreindividuell-direkt Lesen (ἀναγιγνώσκωἀναγιγνώσκω) – Demosthenes bekommt das Schriftstück in die Hand – ist hier eindeutig visuellvisuell


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