Lesen in Antike und frühem Christentum. Jan Heilmann

Lesen in Antike und frühem Christentum - Jan Heilmann


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verwendet wird3 und auch in der heutigen Beschreibungssprache des Lesens noch zu finden ist (überspringen, überfliegen usw.).

      Ein gängiges Verb, das im Griechischen (vielfach auch für die Literatur der Alten KircheKircheAlte bezeugt) Lesen als BewegungBewegung konzeptualisiert, ist διέρχομαιδιέρχομαι (hindurchkommen, durchgehen/-laufen, bis ans Ende kommen).4 Dionysios von Halikarnassos beschreibt in seiner äußerst aufschlussreichen Reflexion des Leselernprozesses in der Antike das geübte Lesen oder VorlesenRezeptionkollektiv-indirekt als stolperfreies Hindurchgehen durch einen Text mit Leichtigkeit und SchnelligkeitLese-geschwindigkeit (vgl. Dion. Hal.Dionysios von Halikarnassos comp. 25; diese Stelle wird unten unter 4.2 ausführlich zu besprechen sein). Eine sehr aufschlussreiche Stelle findet sich in einem bei Athenaios überlieferten Fragment des Komödiendichters Platon (Athen.Athenaios deipn. 1,8 [5b]), der eine Szene bei einem GemeinschaftsmahlGemeinschaftsmahl darstellt, bei dem jemand in der Einsamkeit des Gemeinschaftsmahls ein BuchBuch für sich selbst durchgehen will (ἐγὼ δ᾽ ἐνθάδ᾽ ἐν τῇ ἐρημίᾳ τουτὶ διελθεῖν βούλομαι τὸ βιβλίονβιβλίον πρὸς ἐμαυτόν). Dann wird er aber von einer anderen Person gefragt, um was für ein Buch es sich handle und liest daraufhin aus „einem neuen Kochbuch von Philoxenus“ exemplarische Passagen vor. Die Szene impliziert eindeutig das Konzept nicht-vokalisierendeStimmeinsatznicht-vokalisierendr individuell-direkteLektüreindividuell-direktr Lektüre (freilich reflektiert ironisch gebrochen; in einem Kontext, in dem diese Form von Lektüre eigentlich nicht möglich ist), da der Fragende sonst zumindest erkannt hätte, um was für eine Art Buch es sich handelt, und da außerdem das folgende Vorlesen von Ausschnitten (sequentiellKontinuitätsequentiell-selektivUmfangselektiv; vgl. Athen. deipn. 1,8 [5b /c]) aus dem Buch sonst redundant wäre.

      PlutarchPlutarch berichtet, dass Pompeius nach dem Sieg über Mithridates VI. im 3. Mithridatischen Krieg dessen privateÖffentlichkeitnicht-öffentlich/privat Geheimdokumente in einer Festung am Lykos fand und diese „nicht ohne Vergnügen durchging (διῆλθεν οὐκ ἀηδῶς), da sie vieles enthielten, das den Charakter des KönigsKönig offenbarte“ (Plut. Pomp. 37). Unter den Schriftstücken waren u. a. Aufzeichnungen von seinen Träumen und erotische Korrespondenz mit Monime, auch Kopien von den BriefenBrief an sie. Pompeius hat diese Texte offenbar nicht nur aus dienstlichem Interesse gelesen, sondern sich damit auch unterhaltenUnterhaltung. Dass Plutarch mit dem Verb individuell-direkteLektüreindividuell-direkt Lektüre zum Ausdruck bringt, zeigt sich eindeutig in der Biographie des jüngeren CatoCato der Ältere, Marcus Porcius, der vor seinem Selbstmord nach dem Essen allein in seinem Schlafgemach Platons Phaidon „schon zum Großteil durchgegangen war“ (διελθὼν τοῦ βιβλίου τὸ πλεῖστον καὶ ἀναβλέψας; Plut. Cato min. 68), als er bemerkte, dass sein Schwert nicht mehr an seinem Platz hing.5 An anderer Stelle begründet Plutarch die Abfassung seiner Schrift Non posse suaviter vivi secundum Epicurum in Frontstellung gegen eine Schrift von Kolotes damit, dass er zeigen wolle,

      „dass man […] die Schriften derer, die man widerlegt, nicht bloß beiläufig durchgeht (τὰ γράμματαγράμματα μὴ παρέργως διελθεῖν) und da oder dort Äußerungen herausreißen oder Aussprüche, die nicht in ihren Schriften stehen, angreifen darf, um den Unerfahrenen Sand in die Augen zu streuen“ (Plut.Plutarch non posse suav. 1 [mor. 1086d]; Üb. angelehnt an OSIANDER/SCHWAB).

      PlutarchPlutarch unterstellt Kolotes hier mit polemischem Impetus eine oberflächlicheAufmerksamkeitoberflächlich/flüchtig und selektiveUmfangselektiv Lektüre der von ihm zitierten Schriften. Dies bringt er mit der MetapherMetapher des beiläufigen Durchgehens zum Ausdruck. Im folgenden Dialog6 sagt Aristodem, er sei kürzlich zufällig durch die Briefe Epikurs über den Tod des Hegesianax hindurchgegangen (ἔναγχος γὰρ κατὰ τύχην τὰς ἐπιστολὰςἐπιστολή διῆλθον αὐτοῦ) – d. h. er hat sie individuell-direktLektüreindividuell-direkt gelesen – und bereichert mit seinen Lesefrüchten die Diskussion (Plut. non posse suav. 20 [mor. 1101b]).

      Nicht das Lesen eines schriftlich in einem Medium fixierten Textes, sondern ein rein mentaler Prozess ist gemeint, wenn der PhilosophPhilosophie Athenodorus Augustus als Rat gibt, er solle, wenn er zürne, nichts sprechen und tun, als bis er die vierundzwanzig BuchstabenBuch-stabe für sich durchgegangen sei (τέτταρα γράμματαγράμματα διελθεῖν πρὸς ἑαυτόν)“ (Plut.Plutarch mor. 207c). Der Kontext impliziert das Fehlen hörbarerLautstärkehörbar stimmlicherStimme Realisation.

      Vergleichbar zur Verwendung von διέρχομαιδιέρχομαι finden sich auch die Verb διαπορεύωδιαπορεύω,7 διέξειμιδιέξειμι (durchgehen, hindurchziehen) und ἔπειμιἔπειμι (durchgehen, durchwandern)8 als LesemetaphernMetapher in den Quellen. Isokrates bietet in seinem Panathenaikos (Isokr.Isokrates or. 12,231) eine eindrucksvolle Beschreibung des Vorgehens bei der Ausarbeitung seiner RedenRede, in der ferner auch zum Ausdruck kommt, wie sich unterschiedliche Gemütszustände auf die Darstellungs- und Rezeptionsweise auswirken. Und zwar diktiert er eine Rede einem SklavenSklave, nachdem er durch diese mit Freude durchgegangen sei (ὃν ὀλίγῳ μὲν πρότερον μεθ᾽ ἡδονῆς διῆλθον). Vermutlich bezieht sich letzteres auf die Lektüre (und Überarbeitung) einer Vorfassung, die er womöglich auf TafelnTafel/Täfelchen schriftlich vorkonzipiert hat. Beim diktierten Text handelt es sich um eine vermutlich auf Papyrusrolle ausgearbeitete Fassung der Rede, die er einige Tage später erneut liest und durchgeht (τριῶν γὰρ ἢ τεττάρων ἡμερῶν διαλειφθεισῶν ἀναγιγνώσκων αὐτὰ9 καὶ διεξιών). Mit diesem zeitlichen Abstand fällt ihm einiges Negatives in der Darstellungsweise auf, was in ihm den Impuls auslöst, das ManuskriptHandschrift/Manuskript zu zerstören, woran ihn nur die viele Arbeit hindert, die er in die Ausarbeitung hineingesteckt hat (vgl. Isokr. or. 12,232). Die Verben ἀναγιγνώσκωἀναγιγνώσκω und διέξειμιLektüreindividuell-direkt meinen hier denselben individuell-direkten Lesevorgang, wobei durch letzteres Verb eine gewisse evaluative und womöglich auf KorrekturenKorrektur (s. auch Evaluation) und Überarbeitung ausgerichtete Rezeptionshaltung zum Ausdruck gebracht wird. Dies wird im Folgenden dadurch bestätigt, dass Isokrates in or. 12,246 den oberflächlichenAufmerksamkeitoberflächlich/flüchtig Lesern (τοῖς μὲν ῥᾳθύμως ἀναγιγνώσκουσινἀναγιγνώσκω) einer Rede die sorgfältig Hindurchgehenden (τοῖς δ᾽ ἀκριβῶς διεξιοῦσιν) gegenüberstellt. Und zwar sind dies solche, die nach „ihrem eigenen


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