Lesen in Antike und frühem Christentum. Jan Heilmann
drei Stellen zeigen im Übrigen, dass die von einigen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern vertretene These, die publizierten Reden von Isokrates seien für die RezitationRezitation vor PublikumPublikum (s. auch Lesepublikum) bestimmt, kritisch zu diskutieren wäre.11
Eine weitere aufschlussreiche Stelle findet sich in Eusebs KirchengeschichteKirche-ngeschichte, der mit dem folgenden Satz ein längeres ZitatZitat (Ios.Josephus, Flavius bell. Iud. 5,12,3f [512–519]) einleitet.
„Hole das fünfte Buch der Geschichte des JosephusJosephus, Flavius und nimm es wiederum zur Hand (μετὰ χεῖρας αὖθις ἀναλαβώνἀναλαμβάνω), dann gehe die damaligen traurigen Ereignisse durch (δίελθε τὴν τραγῳδίαν)“ (Eus.Eusebios von Caesarea h. e. 3,6,1).
Auch wenn es sich hier um eine ZitateinleitungZitat-einleitung/-markierung handelt und der LeserLeser der KirchengeschichteKirche-ngeschichte das ZitatZitat im Folgenden aus dem ihm vorliegenden Text lesen kann, spiegelt sich in der Formulierung eine spezifische individuell-direkteLektüreindividuell-direkt LesepraxisLese-praxis wieder, bei der (schon einmal gelesene) BücherBuch zu spezifischen Fragen in die Hand genommen und selektivUmfangselektiv konsultiert werden. Da Euseb hier seine Leser mit imperativischen Formulierungen anspricht, kann man schlussfolgern, dass auch sein eigenes Werk für die individuell-direkte Lektüre konzipiert war.
DiodorDiodorus Siculus nutzt das Verb διέξειμι an oben schon besprochener Stelle (Diod. 1,3,8; s. o. S. 124) zur Beschreibung individuell-direkteLektüreindividuell-direktr Lektüre von historiographischen Texten. Das Verb findet sich sodann als LeseterminusLese-terminus beim antiochenischen Astrologen Vettius ValensVettius Valens, der im 2. Jh. n. Chr. in seiner neunbändigen Schrift Anthologiae, im neunten Buch folgendermaßen über die anvisierte Rezeption reflektiert:
„All of the preceding methods are effective and easily understandable to those who study them (χρηματιστικαὶ καὶ εὐκατάληπτοι τοῖς ἐντυγχάνουσίν) […]. I have set a table rich in learning and I have invited guests to the banquet (πλουσίαν οὖν μαθημάτων τράπεζαν αρασκευασάμενος συνεστιάτορας ἐπὶ τὸ σύνδειπνον ἀνακέκληκα.). Let those who wish to feast act with the physical assistance of the body, which helps them to use the nourishment not in a greedy or insatiable way, but only in so far as the victuals can provide reasonable pleasure. (What is consumed beyond the bounds of nature usually causes harm.) Now if any of the guests should wish to continue living unharmed, let him eat one or two courses, and he will be happy. […] if anyone spends some time on one or two of the preceding methods, he will find his goal to be easily grasped, and he will spend his time in pleasure and delight and will enjoy great repute. If, however, anyone is slow to understand what he reads, yet wishes in one day to run through two or three books, he will not discover the truth (εἰ δέ τις εἴη μὲν εἰς τὸ ἀναγινώσκειν δυσνόητος, θέλοι δὲ εἰς μίαν ἡμέραν δύο καὶ τρεῖς βίβλους διεξιέναι, τὴν μὲν ἀλήθειαν οὐκ ἐξιχνεύσει). Instead, he will be like a storm-fed river, rolling its burden along, worthless and profitless to the onlookers, and sinking back quickly to its useless state. Nor does a racehorse running in a desert place, outside of a stadium or a battle, win any prizes“ (Vett. Val.Vettius Valens 9,9; Üb. M. RILEY; Herv. JH).
Vettius ValensVettius Valens führt hier zunächst aus, dass seine Methoden (ἀγωγή) für die LeserLeser prinzipiell kognitivkognitiv gut zu verarbeiten (εὐκατάληπτος) sind. Mit einer eindrucksvollen Kombination aus verschiedenen Essens- und Bewegungsmetaphern erläutert er dann die Bedingungen für das VerstehenVerstehen. (Auch wenn die LesemetaphernMetapher des Essens und Trinkens erst unter 3.9 besprochen werden, ist diese Stelle wegen der Metaphernkombination schon hier anzuführen.) Seine Darlegungen gleichen einem reichen „Tisch des LernensLernen“ und seine Leser sind Gäste, die sich beim MahlGemeinschaftsmahl (d. h. bei ihrem Rezeptionsprozess) daran bedienen können. In Analogie zu allgemeinen Ansichten antiker Diätetik spezifiziert er, dass beim Lesen maßzuhalten ist, damit die Speise für den Körper ohne Schaden verdaut, also das Gelesene gut kognitiv verarbeitet werden kann. Die hier verwendete Metaphorik spiegelt eindeutig eine individuell-direkteLektüreindividuell-direkt Lektüresituation, bei welcher der Leser sich selbstbestimmt für seine LeseweiseLese-weise entscheidet. Insbesondere legt Vettius Valens den Lesern mit der Metaphorik des Essens eine intensive selektivUmfangselektiv-diskontinuierlicheKontinuitätdiskontinuierlichAufmerksamkeitvertieft Form der MehrfachlektüreLektüreMehrfach- nahe. Diese Form der anvisierten Rezeption führt er sodann explizit aus: Derjenige, der einige Zeit investiert und sich eine oder zwei Methoden aus dem Vorhergehenden herausgreift, wird Freude und großen Nutzen davon haben. Mit Hilfe der Bewegungsmetaphorik bringt er sodann zum Ausdruck, wie seine BücherBuch nicht zu lesen seien – und zwar insbesondere von solchen, die langsamLese-geschwindigkeit bei der kognitiven Verarbeitung beim Lesen sind (εἰς τὸ ἀναγινώσκειν δυσνόητος). Insbesondere solche Leser sollen nicht versuchen, in einem Tag durch zwei oder drei BücherBuch durchzugehen (διέξειμι). Die weitere Ausarbeitung der Bewegungsmetaphorik in den folgenden Sätzen zeigt, dass mit διέξειμι hier durchaus an ein relativ schnelles, oberflächlichesAufmerksamkeitoberflächlich/flüchtig Lesen gedacht ist. Diese Konnotation der Bewegungsmetaphorik war oben schon bei PlutarchPlutarch (Plut. non posse suav. 1 [mor. 1086d], s. o. S. 188) zu sehenSehen und wird uns im Folgenden insbesondere bei Seneca (Sen. ep.Seneca, Lucius Annaeus (d. J.) 2,2-6) wieder begegnen.
Lesen wird in den Quellen sodann mit dem Verb ἐγκύπτωἐγκύπτω (wörtlich: „hineinbeugen“; den Kopf vorbeugen, vornüberbeugen, sich bücken) beschrieben. Als LeseterminusLese-terminus gebraucht, steht hier das Einnehmen der HaltungHaltung des Lesenden pars pro toto für den Gesamtprozess des Lesens. Deutlich wird dies z.B. bei Sextus Empiricus, der im Kontext von Ausführungen über die Farbwahrnehmung der AugenAugen die Wahrnehmung von Geschriebenem, nachdem man in die Sonne geschaut hat, als Beispiel heranzieht: „Ferner, wenn wir uns über ein BuchBuch beugen (ἐγκύψαντες βιβλίῳ), nachdem wir lange in die Sonne geschaut haben, scheint es so, als seien die BuchstabenBuch-stabe golden und tanzten herum.“ (S. Emp.Sextus Empiricus P. H. 1,45). Es ist nun interessant, dass das Verb vor dem 1. Jh. n. Chr. weder im Kontext von LeseszenenLese-szene noch als LeseterminusLese-terminus im engeren Sinne gebraucht wird und die Belege bis auf einige Ausnahmen überwiegend christlich sind.12 Inwiefern eine Interdependenz zur KodexformKodex besteht, lässt sich nur schwer sagen. In vielen Quellen, in denen ἐγκύπτω metonymischMetonymie für Lesen steht, ist es konnotiert mit einem intensiven Lesemodus bzw. einem Studienlesemodus. Die Semantik des Verbes kann zugleich die Haltung, den Grad der Aufmerksamkeit und die Intensität der LektüreAufmerksamkeitvertieft zum Ausdruck bringen. Ein gutes Äquivalent im Deutschen ist das Motiv des „In-ein-Buch-vertieftAufmerksamkeitvertieft-Seins“, da es die vertikal nach unten gerichtete Dimension der Semantik von ἐγκύπτω13 treffend zum Ausdruck bringt.
Aufschlussreich ist eine Episode (Ach. Tat.Achilleus Tatios 1,6,6)