Lesen in Antike und frühem Christentum. Jan Heilmann
dass er dabei seine StimmeStimme zumindest für die Zusehenden nicht wahrnehmbar eingesetzt hat. Dass die Freunde wissen, dass ein BriefBrief des Tiberius in der Sammlung enthalten gewesen ist, kann darauf zurückzuführen sein, dass Piso dieses Wissen mit ihnen geteilt hat oder möglicherweise die Texte sogar zusammen mit ihnen gelesen hat. Letzteres würde aber zwingend bedeuten, dass vulgovulgo an dieser Stelle tatsächlich im Sinne von einer Veröffentlichung für eine breite politische ÖffentlichkeitÖffentlichkeit stünde.35 Dies kann hier jedoch nicht weiter verfolgt werden.
Besonders deutlich auch im Hinblick auf die Aneignung von Texten bezüglich der Produktion neuer Texte wird die metonymischeMetonymie Verwendung dieses Motivs z.B. in der praefatio der Attischen Nächte von Aulus GelliusGellius, Aulus,36 der bei seiner Reflexion der Anordnung seiner Stoffe die lesende Rezeption vom Hören abgrenzt und seine ExzerptpraxisExzerpt erläutert:
„Wenn ich nun also gerade ein griechisches oder lateinisches BuchBuch las (… ut liberum quemque in manus ceperam seu Graecum seu Latinum) oder irgendetwas Wissenswertes hörte (uel quid memoratu dignum audieram), so zeichnete ich mir nach Gutdünken alles nur mögliche ohne Ordnung und Unterschied auf und speicherte mir zur Unterstützung des GedächtnissesGedächtnis eine Art Wissensvorrat (litterarum penus) in der Absicht ab, damit, wenn ich irgend einmal einen Gegenstand oder ein Wort brauchen sollte, was meinem Gedächtnis nicht gleich gegenwärtig und die Bücher, aus denen ich schöpfte, nicht gleich zur Hand sein sollten, ich doch das Nötige sofort auffinden und hervorholen könnte.“ (Gell.Gellius, Aulus praef. 2; Üb. WEISS [leicht modifiziert JH]).
Die Liste mit Belegstellen ließe sich weiter fortsetzen.37 Zuletzt sei noch eine Stelle aus Plautus’ Pseudolus angeführt, die sehr eindrücklich den haptischen Umgang mit einem Schriftstück illustriert und verschiedene Rezeptionsmodi impliziert. Im PrologProlog stellt der SklaveSklave Pseudolus seinem Herren Calidorus die folgende Frage, weil er wahrnimmt, dass Calidorus etwas bekümmert:
quid est quod tu exanimatus iam hos multos dies
gestas tabellas tecum, eas lacrumis lavis,
neque tui participem consili quemquam facis?
„Warum denn trägst die letzten Tage so verstört
den BriefBrief du bei dir stets und badst in Tränen ihn,
gönnst Anteil niemandem an dem, was dich bewegt?“ (Plaut.Plautus Pseud. 9–11; Üb. KLOTZ)
Das Verb gesto (tragen) fungiert in Verbindung mit der hyperbolischen MetapherMetapher des „Badens in Tränen“ (V. 10) als Umschreibung einer individuell-direkteLektüreindividuell-direktn LeseszeneLese-szene, die Pseudolus beobachten konnte: Sein Herr hat einen BriefBrief (auf WachstafelnTafel/Täfelchen) in der Hand und liest ihn mehrfach mit Tränen in den Augen, wobei er seinen Kopf gebeugt über das Schriftstück hält. Die Negation bezüglich des Verbes participo in V. 11, aber auch die Tatsache, dass Pseudolus der Inhalt trotz des Leseaktes vor seinen Augen noch unbekannt ist (vgl. Plaut.Plautus Pseud. 13–19), impliziert eindeutig, dass Calidorus den Brief ohne stimmlicheStimme RealisierungStimmestimmliche Realisierung gelesen hat. Im Folgenden (Plaut. Pseud. 20) gibt Calidorus den Brief dann an seinen SklavenSklave. Bevor dieser ihn vokalisierendLautstärkelaut vorliest (Plaut. Pseud. 41), macht er sich zunächst über das schlechte und unleserliche SchriftbildSchrift-bild lustig (Plaut. Pseud. 22–30) und diskutiert mit seinem Herrn (Plaut. Pseud. 31–39). Die Wortbeiträge von Pseudolus in dieser Diskussion zeigen, dass er zumindest Teile des Briefinhalts vor dem Verlesen schon rein visuellvisuell wahrgenommen hat (vgl. Plaut. Pseud. 35f). Die vokalisierendeStimmeinsatzvokalisierend Lektüre liegt nicht in der Notwendigkeit begründet, dass die stimmliche Realisierung für das VerstehenVerstehen des Textes notwendig gewesen wäre, sondern hat die dramaturgische Funktion, das PublikumPublikum (s. auch Lesepublikum) vom Inhalt des Briefes nach dem Spannungsaufbau in den vorhergehenden Versen in Kenntnis zu setzen.
3.6 Lesen als Suchen bzw. Fragen
Es existieren auch zahlreiche weitere Verben im Griechischen, mit denen die Rezeption von Texten bezeichnet wird und die – verstanden in einem weiten Sinne – in heuristischer Hinsicht einer Kategorie zugeordnet werden können, die sich grob mit dem Konzept Suchen und Finden bzw. Fragen und Antworten beschreiben lässt. So impliziert das erste hier zu betrachtende Lexem ζητέωζητέω, das durchaus ein breites Bedeutungsspektrum aufweist ([unter]suchen, [er]forschen, fragen, aufspüren, sich bemühen, verlangen), dass man dem zu Untersuchenden, also z.B. dem Sachverhalt oder eben dem Text, mit einem bestimmten Erkenntnisinteresse bzw. einer Frage entgegentritt. Aus Gründen der Komplexitätsreduktion wird im Folgenden nur die Verwendungsweise in Bezug auf SchriftmedienLese-medium/Texte untersucht.
Das Verb ζητέωζητέω, dessen EtymologieEtymologie nicht eindeutig ist,1 gilt als altgriechischer terminus technicus für das/die philosophischePhilosophie Untersuchen/Untersuchung, das/die auch schriftgebunden sein kann.2 Philosophisches Untersuchen ist nicht zwingend mit Lesen verbunden und es finden sich Belegstellen, an denen das Verb eindeutig und ausschließlich die „Suche“ im Kopf meint.3
Das Verb wird aber genauso eindeutig dazu verwendet, um die Suche oder das Forschen nach etwas zu bezeichnen, wofür etwas Schriftliches konsultiert werden muss.4 In Demosthenes’ RedeRede gegen Timotheos ist formuliert, in einer Art Schuldenregister bei einer Bank, die Einträge von Timotheos’ Schulden zu suchen und abzuschreiben (… ζητεῖν τὰ γράμματαγράμματα καὶ ἐκγράφεσθαι …; Demosth.Demosthenes or. 49,43). Bei Aristot.Aristoteles pol. 3,1287a beschreibt das Verb Phänomen, dass Patienten medizinischeMedizin Behandlungen in Büchern konsultieren, wenn sie dem ArztArzt misstrauen. In 1Esdr 5,38 geht es darum, dass bestimmte Personen, die Anspruch auf das Priestertum erhoben haben, deshalb von der Ausübung desselben ausgeschlossen wurden, weil „deren Abstammungsschrift im Verzeichnis gesucht (ζητηθείσης τῆς γενικῆς γραφῆςγραφή ἐν τῷ καταλοχισμῷ) und nicht gefunden wurde“.5 Im Prooemium des elften Buches von PolybiosPolybios’ Historien meint das Verb das suchende „Nachschlagen“ in der RolleRolle (scroll), also ein informationsentnehmendes LeseinteresseLese-interesse.6 Einer der Teilnehmer des Gelehrtengesprächs bei Athenaios formuliert, er habe nach Diskussionen über die menschliche NaturNatur in den Werken Brysons von HerakleiaBryson von Herakleia gesucht (ζητέωζητέω), aber nur Beschreibungen von SymposienSymposion und unangemessene erotische Dialoge gefunden (εὑρίσκωεὑρίσκω), welche eine Geringschätzung zukünftige LeserLeser zum Ausdruck brächten (vgl. Athen.Athenaios deipn. 11,118 [508d]). Aufschlussreich ist sodann eine Bemerkung im Vorwort von Kyrills Johanneskommentar, der im Vorwort direkt vor dem Kapitelverzeichnis des ersten Buches deren Funktion erklärt: Sie seien dafür da, den Lesern zu ermöglichen, das Gesuchte sehr einfach zu finden (πρὸς τὸ καὶ λίαν ἑτοίμως ἀνευρίσκεσθαι τοῖς ἐντευξομένοις τὸ ζητούμενον;