Lesen in Antike und frühem Christentum. Jan Heilmann

Lesen in Antike und frühem Christentum - Jan Heilmann


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Lesemodus kann durch Spezifizierung von ἐντυγχάνω mit einem Adverb beschrieben werden. Dies bezeugt Dion Chrysostomos (or. 18,6), der rät, Menander und Euripides nicht nebenbei bzw. oberflächlichAufmerksamkeitoberflächlich/flüchtig zu lesen (… μὴ παρέργως ἐντυγχάνειν …). Die Gründlichkeit der Lektüre wird sodann häufig unter Verwendung des Lexems ἀκριβήςἀκριβής hervorgehoben. So sagt z.B. Plutarch über die Peripatetiker, sie hätten die Schriften von Aristoteles und Theophrast weder viel noch genau gelesen (… οὔτε πολλοῖς οὔτε ἀκριβῶς ἐντετυχηκότες … Plut. Sull. 26). Theodoret Theodoretbescheinigt ferner PorphyriosPorphyrios, er habe „die ProphetenProphet genau gelesen“ (Τοῖς προφήταις ἀκριβῶς ἐντυχὼν … [Theod. Gr. aff. cur. 7,36]).24

      Justin bietet den postulierten Lesern seiner Apologie aus dem römischen Kaiserhaus (vgl. Iust.Iunianus Iustinus Mart.Justin der Märtyrer Apol. 1,1) an, ihnen eine Schrift gegen alle bisher entstandenen Häresien zu geben (σύνταγμα κατὰ πασῶν τῶν γεγενημένων αἱρέσεων …), wenn sie diese lesen wollten (… ᾧ εἰ βούλεσθε ἐντυχεῖν … Iust. Mart.Martial Apol. 1,26,8). Auch bei OrigenesOrigenes ist es eindeutig, dass individuell-direkteLektüreindividuell-direkt Lektüre bei der Verwendung des Verbes als LeseterminusLese-terminus vorausgesetzt ist (vgl. z.B. Orig. Cels. 4,52, wo er im Kontext die Lese-MetonymieMetonymie des „in-die-Hand-Nehmens“ verwendet).

      Das metaphorischeMetapher Konzept der physischen Begegnung steht im Hintergrund, wenn bei PlutarchPlutarch περιπίπτωπεριπίπτω im Sinne von Lesen gebraucht wird; hier scheint er allerdings das Verb bewusst als Metapher zu verwenden. Plutarch verweist nämlich explizit auf die bei Epikur niedergeschriebenen Äußerungen (wörtl. Stimmen) von Sokrates: εἰ δὲ τοιαύταις, ὦ Κωλῶτα, Σωκράτους φωναῖς περιέπεσες, οἵας Ἐπίκουρος γράφει πρὸς Ἰδομενέα … (adv. Col. 18 [mor. 1117d]). Diese metaphorische Verwendung von περιπίπτω ist auch schon im 2. Jh. beim alexandrinischen Astronomen und Mathematiker Hypsikles belegt, der mitteilt, er sei in ein anderes BuchBuch von Apollonios gefallen, also darauf gestoßen: ἐγὼ δὲ ὕστερον περιέπεσον ἑτέρῳ βιβλίῳ ὑπὸ Ἀπολλωνίου … (Hyps.Hypsikles dodek. eikos. prooem. [=Eukl.Euklid elem. 14]). Euseb übersetzt die Aufforderung Tertullians, die Aufzeichnungen zu befragen (consulite commentarious vestros …), in denen man finden (reperioreperio), also lesen könne, dass Nero der erste Verfolger der Christen in Rom gewesen sei (Tert.Tertullianus, Quintus Septimius Florens Apol. 5), folgenermaßen: ἐντύχετεἐντυγχάνω τοῖς ὑπομνήμασιν ὑμῶν, ἐκεῖ εὑρήσετεεὑρίσκω … (Eus.Eusebios von Caesarea h. e. 2,25,4).

      Das lateinische Verb consulo (befragen) ist als LeseterminusLese-terminus erst bei spätantiken christlichen AutorenAutor/Verfasser bezeugt. Bei Augustinus findet man das Konsultieren von Büchern (ego consulens libros; Aug.Augustinus von Hippo mus. 6,52) oder der apostolischen Schriften (scripturasscriptura apostolicas consulamus; Aug. ep. ad cath. 7,16). Orosius spricht von der Konsultation der sibyllinischen BücherBuch (vgl. Oros.Orosius hist. 3,22,5). Das dahinterliegende metaphorischeMetapher Konzept, Lesen als Dialog mit dem Text zu verstehen, findet sich allerdings schon bei den klassischen Autoren: CiceroCicero, Marcus Tullius schreibt in einem BriefBrief an Atticus, dass in der von ihm sehr geschätzten Einsamkeit (solitudo) sein einziges Gespräch mit Geschriebenem sei (in ea mihi omnis sermo est cum litteris; Cic. Att. 12,15). Ähnlich unterhält sich Plinius in seiner VillaVilla Laurentinum nur mit sich selbst und mit seinen Büchern (mecum tantum et cum libellis loquor; Plin. ep.Plinius der Jüngere 1,9,5). Aus diesen Stellen zu schließen, Cicero und Plinius hätten vokalisierendStimmeinsatzvokalisierend gelesen, wäre methodisch verfehlt, da es sich eindeutig um eine metaphorisch konzeptualisierte Beschreibung ihrer LesepraxisLese-praxis handelt. Zudem betont Plinius im Kontext gerade die Ruhe in seiner Villa, wo er nichts hören (nihil audioaudio; Plin. ep. 1,9,5) muss. Das Gespräch mit sich selbst muss ebenfalls nicht zwingend als Selbstgespräch unter Einsatz der StimmeStimme verstanden werden, sondern kann im Kontext durchaus allein auf das Denken bezogen sein.

      Das durch hinzutretenden Artikel substantivierte PartizipPartizip von ἐντυγχάνωἐντυγχάνω dient als Sammelbezeichnung für LeserLeser/RezipientenRezipient25 und findet sich in dieser Bedeutung auch vielfach in den Schriften Philons und bei den KirchenväternKirche-nväter.26 Dass ein physischer Kontakt mit Büchern in vielen Fällen vorausgesetzt werden kann, zeigt eine Stelle bei PolybiosPolybios (3,9,1–3), der von den Lesern (Partizip von ἐντυγχάνωἐντυγχάνω) der Annalen von Fabius spricht und diejenigen, die seine BücherBuch in die Hand nehmen, davor warnt, nur auf den TitelTitel zu achten statt die Fakten zu beurteilen.27 Auffällig ist außerdem seine Konstruktion eines Gegensatzes zwischen den Lesern (τοὺς ἐντυγχάνοντας) bzw. Lernbegierigen (τοὺς φιλομαθοῦντας)28 eines Historikers (συγγραφεύς) und dem PublikumPublikum (s. auch Lesepublikum) bzw. den Zuhörern (τοὺς ἀκούονταςἀκούω) eines Tragödienschreibers (τραγῳδιογράφος).29 An einer bekannten Stelle bei Dion Chrysostomos wird deutlich, dass zumindest beim Infinitiv ἐντυγχάνειν nicht ausgeschlossen werden kann, dass auch die indirekte Rezeption durch Vorlesenlassen mit dem Verb bezeichnet werden kann.

      „Bezüglich der Dichter würde ich dir raten, dass du auf Menander von den Komödiendichtern und Euripides von den Tragikern nicht nebenher triffst, und auf diese diese solltest du nicht so [treffen], sie selbst zu lesen, sondern durch einen Geübten, gut und angenehm, zumindest aber ohne Schmerzen, vorzutragen.“ (Dion Chrys. or. 18,6)

      Die indirekte Form der Rezeption erscheint mir bei dem Verb aber nicht vorrangig zu sein. Denn hier bei Dion Chrysostomos steht das „Aufeinandertreffen“ mit dem Inhalt und der Schönheit der Sprache im Fokus. Der ästhetischeästhetischer Genuss/Vergnügen Genuss sei bei DramenDrama groß, wenn der RezipientRezipient von der Belastung der individuell-direkteLektüreindividuell-direktn Lektüre entlastet sei: πλείων γὰρ ἡ αἴσθησιςἀπαλλαγέντι τῆς περὶ τὸ ἀναγιγνώσκειν (Dion Chrys. or. 18,6). Für die Einschätzung des Quellenwertes für die


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