Lesen in Antike und frühem Christentum. Jan Heilmann

Lesen in Antike und frühem Christentum - Jan Heilmann


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Realisation, das VorlesenRezeptionkollektiv-indirekt, eindeutig zu kennzeichnen.36 Daneben wird – allerdings selten belegt – auch das Derivat praelegopraelego für das Vorlesen verwendet. Und zwar bezeichnet es einmal allgemein das Vorlesen vor PublikumPublikum (s. auch Lesepublikum),37 kann aber auch eine ganz spezifische Vorlesesituation in Bildungskontexten meinen, in welcher der LehrerLehrerLehrer den Schülern einen Text vorliest, während sie ihn selbst vor den AugenAugen haben und mitlesen können, wie bei Quintilian deutlich wird. Der Zweck dieses Vorlesens ist bei Quintilian jedoch nicht die Ausbildung einer guten Vorlesepraxis – die Schüler lesen nur mit den Augen mit(!) –, sondern eine basale Lese- und VerstehensfähigkeitVerstehen, was vor allem dadurch deutlich wird, dass auf einer zweiten Stufe unbekannte Wortbedeutungen erläutert werden.38 Nur einmal in einer KomödieKomödie von Plautus findet sich das Derivat translego als LeseverbLese-terminus (vgl. Plaut.Plautus Asin. 4,1,5). Im Kontext scheint es dort – als zweite Aufforderung, einen Vertrag (syngraphus) durchzulesen – einen besonderen Nachdruck mit der Leseaufforderung zu verbinden – etwa: „lies darüber“. Wegen der geringen Anzahl von Belegen sind weitergehende Schlussfolgerungen zur Semantik des Verbes jedoch nicht möglich.39

      Bei legolego handelt es sich demgegenüber um einen polyvalenten LeseterminusLese-terminus, der gleichsam als allgemeiner und neutraler Oberbegriff das Phänomen „Lesen“ in seiner ganzen Breite bezeichnen kann, wie A. Busetto treffend zusammenfasst:

      „Lego è anche il verbo più ‚neutro‘ per indicare l’atto del leggere. Esso può essere riferito non solo a qualsiasi tipologia di documento, ma anche a qualunque modalità e finalità della lettura: da quella privata di una lettera a quella pubblica di un testo letterario o giuridico, da quella scolastica del maestro a quella critica ed ecdotica dei grammatici; tali letture contemplano una nutrita varietà di fruitori (lo stesso lettore, una singolo uditore, un pubblico più o meno vasto), sedi, ‚gradi di oralizzazione‘.“40

      Und als ein solcher Oberbegriff kann legolego auch sporadisch kollektiv-indirekteRezeptionkollektiv-indirekt Formen der Rezeption benennen, wobei es sich in diesen Fällen dann um eine konzeptionelle Übertragung individuell-direkteLektüreindividuell-direktr Lektüre handelt,41 die uns aus dem deutschen Gebrauch von „Lektüre“ und „lesen“ ebenfalls bekannt ist.

      Ähnlich polyvalent (vgl. den Eintrag im TLL) ist das von legolego abgeleitete Verbalsubstantiv lectiolectio, das gleichsam als Oberbegriff „das Lesen“ das gleichnamige Phänomen umfassend bezeichnet und durch die jeweiligen Verwendungskontexte ganz unterschiedliche spezifische Bedeutungen (das Lesen als Fähigkeit,42 das Durchlesen eines Schriftstücks,43 das Lesen zu UnterhaltungszweckenUnterhaltung44 oder zur Bildung bzw. zur Vorbereitung eigener TextproduktionTextproduktion,45 die Lektüre als metonymischeMetonymie Bezeichnung des Lesestoffes,46 das VorlesenRezeptionkollektiv-indirekt47, die Aussprache eines BuchstabensBuch-stabe/Wortes48, aber auch nur das visuellevisuell Erkennen/Entziffern von Buchstaben49 usw.) annehmen kann. Das Verbalsubstantiv bezeichnet aber gleichsam auch das Resultat eines Leseprozesses (das Gelesene oder die Lesart50), der Plural lectiones wird daher als Buchtitel für Sammlungen von Lesefrüchten sowie für Kommentare verwendet.51 Es lässt sich anhand der in den Fußnoten genannten Quellen nicht belegen, dass eine stimmlicheStimme oder lautliche Realisierung generell impliziert wäre. Die Stellen, an denen das Substantiv im Sinne von „Lesung“ gebraucht wird, um das Vorlesen vor anderen zu bezeichnen, sind kontextuell determiniert und zeigen eine besondere Verwendungsweise des Wortes. Als Bildspendebereich der MetapherMetapher wird man analog zu lego annehmen können, dass dieser durch die Tätigkeit des Sammelns, Zusammenlesens,52 bzw. Auslesens, Auswählens53 geprägt ist, auch wenn es freilich schwierig ist zu erheben, ob diese Bedeutungsdimension bewusst wahrgenommen wurde. Einige Stellen zeigen im Übrigen eindeutig, dass eine individuelle, vermutlich auch nicht-vokalisierendeStimmeinsatznicht-vokalisierend Lektüre mit lectio bezeichnet werden konnte:

      So verweist z.B. CiceroCicero, Marcus Tullius in einem BriefBrief an Rufus (fam. 5,20,2) auf das Durchlesen bzw. Durchsehen eines in seiner Abwesenheit erstellten Schriftstücks (liberliber) mit einer Abrechnung (ratio), das er von seinem SklavenSklave in die Hand bekommen hat. Ammianus Marcellinus (res gestae 15,8,16) verwendet lectiolectio zur Beschreibung einer individuell-direkteLektüreindividuell-direktn LesepraxisLese-praxis, die er mit dem Verb scrutorscrutor (durchsuchen, durchwühlen, durchforschen, untersuchen) spezifiziert. Vgl. auch Quint.Quintilian inst. or. 10,1,20: per partes modo scrutanda omnia (s. u. bzgl. perlegoperlego).54 HieronymusHieronymus hat vermittelt durch einen gewissen Paulus Kunde von Cyprians SekretärSekretär (notarius) über dessen Lektürepraxis erhalten: und zwar, „dass CyprianCyprian von Karthago gewöhnlich keinen Tag ausließ ohne die Lektüre Tertullians und er häufig zu ihm sagt ‚gib mir den Meister‘, was selbstverständlich TertullianTertullianus, Quintus Septimius Florens bezeichnet“ (solitum numquam Cyprianum absque Tertulliani lectione unum diem praeterisse, ac sibi crebro dicere, Da magistrum, Tertullianum videlicet significans; Hier. vir. ill. 53). Diese Stelle ist insofern aufschlussreich, als Cyprian seinen Sekretär auffordert, ihm den Meister zu geben (dare magistrum). Dies impliziert, dass er anscheinend für die Verwaltung der BücherBuch zuständig ist, also eine Art Hilfskrafttätigkeit übernimmt und gerade nicht die Funktion hat, ihm aus Tertullians Schriften vorzulesen.

      Das Derivat lectitolectito, das zu den wenigen sog. verba frequentativa bzw. iterativa gehört, hebt entsprechend des erstarrten Iterativ/Intensiv-Morphems ita55 die Häufigkeit oder die Intensität von individuellen Leseprozessen hervor, impliziert jedoch nicht zwingend stimmlicheStimme RealisierungStimmestimmliche Realisierung beim Lesen.56

      Plinius hat in seiner BibliothekBibliothek in seiner VillaVilla Laurentinum bei Ostia ein armariumBuch-aufbewahrungarmarium, „das keine BücherBuch zum Lesen, sondern zum intensiven StudiumStudiumAufmerksamkeitvertieft enthält“ (quod non legendoslego libros sed lectitandos capit; Plin. ep.Plinius der Jüngere 2,17,8). In einem BriefBrief an Pomponius Bassus unterscheidet er als Aktivitäten der Muße (otium), Bassus diskutiere viel, höre viel und lese viel intensiv, wodurch er trotz seines reichen Wissens täglich etwas Neues hinzulerne (multum disputare, multum audireaudio, multum lectitare, cumque plurimum scias, cotidie tamen aliquid addiscere; Plin. ep. 4,23,1). Vgl. außerdem Plin. ep. 3,5,1. Ganz eindeutig ist auch Sidon.Sidonius Apollinaris epist. 2,10,5: opus est, ut sine dissimulatione lectites, sine fine lecturias. Vgl. außerdem exemplarisch Cic.Cicero, Marcus Tullius Brut. 31,121; Plin. ep. 3,5,1; 4,19,2; Gell.Gellius, Aulus 2,23,1f; Arnob.Arnobius der Ältere 2,9. Interessant ist ferner die Verwendung bei TacitusTacitus (ann. 14,50), der bezeugt, dass die Bücher des durch Nero verbannten Senators Fabricius Veiento, solange sie verboten und nur unter Gefahr beschafft werden konnten, gesucht und viel gelesen waren (conquisitos lectitatosque), durch die


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