Lesen in Antike und frühem Christentum. Jan Heilmann

Lesen in Antike und frühem Christentum - Jan Heilmann


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auf das bereits Geschriebene mit dem PartizipPartizip Perfekt Passiv dictum est … (Mel.Mela, Pomponius de chorogr. 1,25). Zitationsformeln mit verba dicendiverba dicendi finden sich ferner auch in hebräischen Texten.28

      Einen eindrücklichen Beleg für die dadurch erzeugte Fiktion eines Dialogs mit seinen Lesern, der Teil einer durchdachten Leserlenkungsstrategie ist, findet sich z.B. beim Werk von PolybiosPolybios.29 Aufschlussreich ist es ferner, wenn Clemens von Alexandria seinen LeserLeser im Singular(!) auffordert, den folgenden Bericht über den Apostel Johannes zu hören: ἄκουσον μῦθον οὐ μῦθον, ἀλλὰ ὄντα λόγον περὶ Ἰωάννου τοῦ ἀποστόλου … (Clem. Al.Clemens von Alexandria Quis div. salv. 42). Euseb als empirischer Leser dieser Schrift von Clemens fordert seine Leser wiederum dazu auf, diese Schrift zur Hand zu nehmen und den Bericht zu lesen, den er dann jedoch zitiert: λαβὼν δὲ ἀνάγνωθι ὧδέ πως ἔχουσαν καὶ αὐτοῦ τὴν γραφήν … (Eus.Eusebios von Caesarea h. e. 3,23,5).

      Auch in antiken BriefenBrief findet sich (zumeist am Anfang) das Verb ἀκούωἀκούω, um auf das Schriftstück zu verweisen, auf das man antwortet.30 In vielen Fällen ist eindeutig, dass ἀκούω sich auf Gelesenes bezieht31 (gleiches gilt für das lateinische audioaudio),32 nur selten ist es nicht eindeutig entscheidbar, ob auf etwas Schriftliches Bezug genommen wird; ein Bezug auf eine mündlich konzeptualisierteMündlichkeit konzeptuell Kommunikation ohne Schriftbezug ist bei der Verwendung von ἀκούω am Briefanfang zwar möglich (z.B. bei Bericht durch einen BriefbotenBrief-bote) allerdings wegen des brieflichen Kommunikationskontextes nur durch kontextuelle Marker festzustellen.33 Denn die Belege fügen sich ein in das Bild, dass briefliche Kommunikation in der Antike mehrheitlich als durch ein SchriftmediumLese-medium vermitteltes Gespräch konzeptualisiert ist, also die Anwesenheit der Kommunikationspartner suggeriert und treffend mit der Kategorie der „imaginierten MündlichkeitMündlichkeit“34 charakterisiert werden kann.

      CiceroCicero, Marcus Tullius bezeichnet die privateÖffentlichkeitnicht-öffentlich/privat Briefkommunikation in einem Kontext (Cic. Phil. 2,7), in dem er M. Crassus vorwirft, er habe gegen die Konvention einen Privatbrief von ihm öffentlichÖffentlichkeitöffentlich vorgelesen (recitorecito), ein „Gespräch unter Freunden in Abwesenheit (amicorum conloquia absentium)“, das durch die öffentliche RezitationRezitation zerstört worden sei. An anderer Stelle formuliert er: „Aber weil ich meine, Dich reden zu hören, wenn ich Deine Briefe lese (legolego), und mit Dir zu sprechen, wenn ich Dir schreibe, deshalb habe ich so unbändige Freude gerade an Deinen längsten BriefenBrief und werde selbst häufig ein wenig zu langstielig beim SchreibenSchreiben“ (Cic. ad Brut. 1,1,45; Üb. KASTEN); Basilius von Caesarea schreibt in seinem Brief an den PhilosophenPhilosophie Eustathius (Basil.Basilius der Große ep. 1,1) angesichts des verhinderten Wiedersehens, er sei durch seinen Brief „überhaupt wundervoll erquickt und getröstet worden (θαυμαστῶς πως ἀνεκαλέσω καὶ παρεμυθήσω τοῖς γράμμασι).“ Ps.-Liban. ep. char. 2 beschreibt einen Brief als schriftliche UnterhaltungUnterhaltung: Ἐιστιλῆ μὲν οὖν ἐστιν ὁμιλία τις ἐγγράμματος ἀπόντος πρὸς ἀπόντα γινομένη … ἐρεῖ δέ τις ἐν αὐτῇ ὥσπερ παρών τις πρὸς παρόντα. In dokumentarischen Briefen findet sich die Wendung γράφεις μοι λέγων, vgl. P.Mil.Vogl. 1 24,6; O.Did.Didymos Chalkenteros 323,2. K. Thraede spricht daher von der „Illusion des Beisammenseins“ und bezeichnet das briefliche Anwesenheitstopos in Anknüpfung an SymmachusSymmachus (ep. 1,84), AmbrosiusAmbrosius von Mailand (ep. 46,1; 47,4; 66,1) und HieronymusHieronymus (ep. 3,1) als imago praesentiae.35 Ein weiteres relevantes Indiz für diese Konzeptualisierung der schriftbasierten brieflichen Kommunikation besteht in der Verwendung des Verbes σιγάω (stillLautstärkestill bleiben, schweigen) im Sinne von nicht-schreiben. Vgl. z.B. die Einleitungsphrase im Brief von Libanios an Akakios, mit der er begründet, warum er so lange nicht geantwortet hat: Πολὺν ἐσίγησα χρόνον ὑπ’ αἰσχύνης, ὅτι … (Lib.Libanios epist. 1514,1).

      Es sei zuletzt auch an dieser Stelle noch einmal betont, dass aus dem Vorkommen des Lexems ἀκούωἀκούω nicht geschlussfolgert werden darf, dass Privatbriefe in der individuell-direkteLektüreindividuell-direktn Rezeption vokalisierendStimmeinsatzvokalisierend gelesen wurden.36 Unter den gleichen methodischen Voraussetzungen, könnte man ja sonst aus modernen Briefwechseln, die ebenfalls als Gespräch unter Abwesenden konzipiert sind und in denen konventionell verba dicendiverba dicendi sowie verba audiendiverba audiendi im Sinne von „schreibenSchreiben“ und „lesen“ verwendet werden,37 ableiten, dass Briefe noch im 19./20. Jh. vokalisierend gelesen worden wären. Es bleibt festzuhalten, dass die Verben ἀκούω und audioaudio in der brieflichenBrief Kommunikation der Antike und an zahlreichen der oben diskutierten Stellen in der Literatur vor allem im Sinne von „zur Kenntnis nehmen“ verwendet werden, also nicht das physische Hören, sondern die kognitivekognitiv Verarbeitung im Blick ist.38 Ohne kontextuelle Markierungen darf also beim Vorkommen des Verbes im Kontext der Rezeption von Texten nicht auf die mediale Form bzw. Art der sinnlichen Wahrnehmung rückgeschlossen werden.

      3.3 Lesen als Sammeln: λέγω und Derivate

      Während legolego im Lateinischen als Standardverb für lesen zu gelten hat (s. u.), gibt es für das auf den gleichen Stamm zurückgehende griechische Verb λέγωλέγω nur relativ wenige Belege für die Verwendung als LeseterminusLese-terminus, die vor allem aus dem 5./4. Jh. v. Chr. stammen.

      Bei Aineias Taktikos findet sich die Formulierung „aus dem BuchBuch sagen“, d. h. vorlesen: ῥηθήσονται δὲ ἑξῆς αἱ ἐπιβουλαὶ ἐκ τῆς βίβλου παραδείγματος ἕνεκεν (Aen. Tact.Aineias Taktikos 11,2). Platon lässt Eukleides in der Rahmenhandlung seines Theaitetos1 sagen: „Junge, nimm das Buch und lies (παῖ, λαβὲ τὸ βιβλίονβιβλίον καὶ λέγε)!“ (Plat.Platon Tht. 143c). Er verwendet hier λέγωλέγω synonym mit ἀναγιγνώσκωἀναγιγνώσκω, wie eine Stelle kurz zuvor zeigt, an der Eukleides vorschlägt: „Und während wir ruhen, soll der Junge vorlesen (… ὁ παῖς ἀναγνώσεται)“ (Plat. Tht. 143b). Die gleiche Synonymität findet sich bei Demosth.Demosthenes or. 21,8: ἀναγνώσεται δὲ πρῶτον μὲν ὑμῖν τὸν νόμον … λέγε τὸν νόμον. Diese Formel „lies das Gesetz“ ist häufig belegt. Vgl. neben zahlreichen Stellen bei Demosthenes (z.B. or. 21,10; 38,4; 43,62)


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