Lesen in Antike und frühem Christentum. Jan Heilmann
LeseszenenLese-szene: Der Meder Harpagos will dem späteren Perserkönig Kyros II. im Geheimen einen BriefBrief zukommen lassen, mit dem er ihn zu einer Verschwörung gegen den medischen KönigKönig Astyages überreden will. Damit der Brief unentdeckt bleibt, näht er ihn in einen Hasen ein und trägt einem ihm vertrauten Boten auf, den Hasen dem Kyros zu bringen und betont, dass Kyros ihn eigenhändig und ohne Anwesenheit anderer zerlege (ἐντειλάμενὸς οἱ ἀπὸ γλώσσης διδόντα τὸν λαγὸν Κύρῳ ἐπειπεῖν αὐτοχειρίῃ μιν διελεῖν καὶ μηδένα οἱ ταῦτα ποιεῦντι παρεῖναι; Hdt.Herodot 1,123,4). Die eigentlichen Leseszenen beschreibt Herodot folgendermaßen:
„Tatsächlich kam dieser Plan zur Ausführung; Kyros erhielt den Hasen und schnitt ihn auf. Er fand den BriefBrief darin, nahm und las ihn (εὑρὼνεὑρίσκω δὲ ἐν αὐτῷ τὸ βυβλίον ἐνεὸν λαβὼν ἐπελέγετο). Dieses sagte das Schriftstück (τὰ δὲ γράμματαγράμματα ἔλεγε τάδε): … Als Kyros dies gehört [d. h. gelesen] hatte (ἀκούσας ταῦτα ὁ Κῦρος), überlegte er, wie er die Perser am geschicktesten zum Abfall überreden konnte. Schließlich fand er folgenden Weg am passendsten und ging ihn: In einem Brief schrieb er seine Absicht nieder. Dann berief er eine Versammlung der Perser. Nach dem Entfalten des Briefes sagte er also lesend (μετὰ δὲ ἀναπτύξας τὸ βυβλίον καὶ ἐπιλεγόμενος ἔφη): … “.24
Es ist bezeichnend, dass sich die Verwendungsweise von ἐπιλέγομαιἐπιλέγομαι in der individuell-direkteLektüreindividuell-direktn LeseszeneLese-szene (Hdt.Herodot 1,124,1), bei der eindeutig keine ZuhörerHörer vorauszusetzen sind (1,123,4), deutlich von der VorleseszeneRezeptionkollektiv-indirekt unterscheidet (1,125,1f). Bei der Vorleseszene sahSehen sich Herodot – wie bei einer anderen, eindeutigen Vorleseszene25 – genötigt, mit φημί ein zusätzliches verbum dicendiverba dicendi zu ergänzen, was angesichts Svenbros Interpretation der Semantik von ἐπιλέγομαι als „ein Sagen hinzufügen zu“ redundant erschiene. M. E. zeigt die Stelle jedoch eher, dass sich Herodot einer solchen semantischen Dimension des Verbes hier nicht bewusst gewesen ist und ἐπιλέγομαι stattdessen als konventionalisierten LeseterminusLese-terminus verwendet hat. Bei der individuellen Leseszene verzichtet Herodot dann auch auf ein weiteres verbum dicendiverba dicendi. Außerdem nutzt er das Bild vom sprechenden Schriftstück, das der LeserLeser Kyros (möglicherweise nur in seinem Kopf) hört (1,125,1).26 Diese Bildlichkeit konterkariert Svenbros These einer Unvollständigkeit des GeschriebenenSchriftGeschriebenes ohne die StimmeStimme des Lesers. Gegen Svenbro kann man festhalten, dass möglicherweise für die Verwendung von ἐπιλέγομαι als Leseterminus eher die Bedeutungsdimension des Verbes „für sich auslesen“/to pick out leitend ist.27
Da legolego im Lateinischen im Gegensatz zum Griechischen λέγωλέγω, das etymologischEtymologie auf die gleiche Wurzel zurückgeht, als Standardverb für lesen fungiert, sind abschließend einige ausblickende Bemerkungen zu diesem Verb notwendig. Eine ausführliche Analyse der Lexemverwendung kann im Rahmen dieser Arbeit jedoch nicht geleistet werden. Allerdings ist mit dem Eintrag im TLL28 das MaterialMaterialität insgesamt deutlich besser aufgearbeitet als bei den griechischen HauptleseverbenHauptleseverb ἀναγιγνώσκωἀναγιγνώσκω und ἐντυγχάνωἐντυγχάνω. Zudem kann an Buschs Analyse der Semantik und der Lexemverwendung von lego angeknüpft werden, die er im Kontext der Diskussion um das „lauteLautstärkelaut“ und „stille“ Lesen in der Antike vorgelegt hat.29
Zunächst verweist Busch darauf, dass die Verwendung als LeseterminusLese-terminus etymologischEtymologie auf die Grundbedeutung „sammeln“, also über die Vorstellung des „Auflesens“ einzelner BuchstabenBuch-stabe und dem anschließenden Zusammensetzen zu Worten und Sinneinheiten zurückzuführen sein könnte.30 Diesbezüglich hat J. Svenbro angemerkt, dass es aber auch durchaus vorstellbar wäre, dass es sich um eine Übernahme eines schon geprägten terminus technicus aus dem Griechischen handele und die Erklärungen der antiken Etymologie eine Konstruktion der Entwicklungsgeschichte aus der Retrospektive darstelle.31 M. E. kann diese Frage nicht sicher entschieden werden. Immerhin zeigen aber die Ausführungen Varros, dass im 1. Jh. v. Chr. durchaus ein Zusammenhang zwischen der Semantik von legolego und dem Leseprozess hergestellt werden konnte. So formuliert VarroVarro in seinem Werk De lingua Latina: „‚Sammeln‘ wird gesagt, weil die Buchstaben von den AugenAugen ‚gesammelt‘ werden“ (legere dictum quod leguntur ab oculis litterae; Varro ling. 6,66). Buschs Hinweis ist zwar richtig, dass auf der Grundlage der Etymologie und Semantik von lego nicht entschieden werden kann, ob generell vokalisierendStimmeinsatzvokalisierend oder nicht-vokalisierendStimmeinsatznicht-vokalisierend gelesen wurde. Allerdings ist es doch bezeichnend, dass Varro auf den Aspekt der visuellenvisuell Wahrnehmung der Buchstaben beim Lesen rekurriert, aber die vermeintlich vokalisierende Weiterverarbeitung außen vor lässt. Dies stellt zwar ein argumentum e silentio dar, die Beweislast, dass lego per se vokalisierende Lektüre impliziere, liegt jedoch angesichts dieses Befundes bei den Vertretern dieser These. Aus meiner Sicht ist die Stichhaltigkeit der Argumente für die These zu hinterfragen, dass diese Verwendungsweise von lego in den Quellen eindeutig zeige, unmarkiertes lego bezeichne den normalen Modus „lauter“ Lektüre.
Buschs Hauptargumente für diese These sind a) Belege, die aus seiner Sicht eindeutig Fälle von vokalisierender, individueller Lektüre zeigten. Dass diese Belegstellen (Busch selbst verweist exemplarisch nur auf Cic.Cicero, Marcus Tullius fam. 9,20,3 und sonst auf die in der bisherigen Forschungsdiskussion herangezogenen Belegstellen) aber eben nicht eindeutig sind, habe ich oben schon ausgeführt (1.3). Die dort ausführlich diskutierten methodischen Probleme, welche den Diskurs um die These des generell vokalisierendenStimmeinsatzvokalisierend Lesens in der Antike prägen, brauchen hier nicht noch einmal wiederholt zu werden. Es sei schon hier betont, dass damit freilich nicht in Frage gestellt wird, dass es zahllose Belege gibt, an denen legolego im Sinne von „vorlesen vor anderen“ gebraucht wird. Busch zeigt b) am Befund, dass die adverbialen Bestimmungen von lego entweder „stummes“ oder „besonders“ lautes Lesen markierten32 und leitet daraus ab, dass der adverbial unmarkierte Gebrauch generell lesen in Normallautstärke impliziere. Dies ist ein methodischer Fehlschluss, da aus einem negativen Befund eine positive Schlussfolgerung gezogen wird, und dabei narrative und leserpragmatischePragmatik Gründe im Kontext der jeweiligen Stellen missachtet werden, die eine adverbiale Bestimmung begründen.33 c) Es ließen sich lautLautstärkelaut Busch keine Belege anführen, an denen unmarkiertes lego definitiv „stilles“ Lesen meint. Dies ist nicht nur ein argumentum e silentio, sondern stimmt m. E. auch nicht. So lässt z.B. PetroniusPetronius Arbiter, T. Trimalchio in seinem Roma Satyricon verfügen, dass in der Mitte seines Grabsteins eine Sonnenuhr angebracht werden solle, „damit jeder, der nach der Stunde sieht – ob er will oder nicht – meinen Namen liest (ut quisquis horas inspiciet, velit nolit, nomen meum legat)“ (Petron.Petronius Arbiter, T. sat. 71,12).34 In diesem Kontext kann mit lego eigentlich nur die visuellevisuell Wahrnehmung des Namens in der Grabinschrift gemeint sein.
Vor diesem Hintergrund ist die Schlussfolgerung Buschs, dass die Grundbedeutung von legolego „die lautliche Realisation des Gelesenen im Begriff“35 einschließt, zu hinterfragen