Lesen in Antike und frühem Christentum. Jan Heilmann
ToraTora, vgl. Philo Fug. 53; somn. 1,92. Zumindest in der publizierten Form von Philons Texten gilt diese Aufforderung den RezipientenRezipient, das im Folgenden geschriebeneSchriftGeschriebenes ZitatZitat zu lesen.
Anders als das griechische Standardleseverb ἀναγιγνώσκωἀναγιγνώσκω (s. o.) scheint λέγωλέγω zumindest in klassischer Zeit exklusiv die vokalisierendeStimmeinsatzvokalisierend Realisierung von Text (vorlesen, rezitieren) zu bezeichnen. Schwer zu entscheiden ist nicht zuletzt deshalb, ob die etymologischeEtymologie Grundbedeutung des in vielen Sprachen zu findenden Stammes „sammeln“, „(auf)lesen“2 bei der Verwendung bewusst war bzw. eine Vorstellung des Auflesens von BuchstabenBuch-stabe, Bedeutung oder Klang mit dem Verb konnotiert werden konnte3 oder ob die Verwendung als LeseterminusLese-terminus nicht vielmehr durch die Bedeutung „sagen“, „sprechen“ initiiert worden ist.
Im Lateinischen können analog die Verben enuntio, dico und pronuntio mit entsprechenden adverbialen Bestimmungen, die LesemedienLese-medium anzeigen, z.B. de scripto,4 ex tabellaTafel/Täfelchentabella5 u. ä. verwendet werden, um VorlesenRezeptionkollektiv-indirekt zu markieren.6
Deutlich häufiger und in der Semantik differenzierter werden präfigierte Formen von λέγωλέγω als LeseterminusLese-terminus verwendet. Dabei findet man ἀναλέγωἀναλέγω in frühen Quellen noch im Aktiv als Leseterminus, später ist es vor allem die mediale Form ἀναλέγομαιἀναλέγομαι, die lesen bedeutet. J. Svenbro verweist bezüglich der aktivischen Form auf eine InschriftInschriften aus der ersten Hälfte des 5. Jh. v. Chr. aus Teos und versteht es als Synonym zum LeseverbLese-terminus ἀνανέμωἀνανέμω (verteilen),7 das ebenfalls in aktivischer Form im dorischen Dialekt lesen bedeutet hat,8 wobei das Aktiv „den LeserLeser zum Instrument im Dienst des GeschriebenenSchriftGeschriebenes“9 macht. Demgegenüber habe die mediale Form ἀνανέμομαι, die im ionischen Dialekt lesen bedeutet, „eine viel subtilere Bedeutung als ‚verteilen‘. Tatsächlich bedeutet sie ‚verteilen, indem man sich der Verteilung mit einschließt‘.“10 Svenbro verweist in diesem Zusammenhang auf die Mnesitheos-Stele aus Eretria auf Euböa aus dem 5. Jh., auf der geschrieben steht: „Seid gegrüßt, ihr, die ihr vorübergeht; ich aber liege tot in der Erde. Tritt hierher und lies (ἀνάνεμαι), wer hier begraben ist: ein Fremdling aus Aigina, mit Namen Mnesitheos.“11 Es ist m. E. nicht nur ein Grenzfall, dass „ein solcher Leser den Inhalt des Geschriebenen ‚verteilen‘ kann, ohne daß er [andere] HörerHörer hat“12; vielmehr ist der Leser selbst sein eigener Zuhörer (lesen im Sinne von „auf sich selbst verteilen“), wobei ohne sichere Textsignale im Kontext schwer eindeutig zu entscheiden ist, ob beim Gebrauch des Verbes jeweils an das Hören der eigenen StimmeStimme oder aber der internalisierten Stimme, der inneren LesestimmeStimmeinnere (inner reading voice), gedacht ist.13 Dies zeigen nicht zuletzt einige Inschriften aus hellenistischer Zeit, in denen ein nicht-vokalisierendeStimmeinsatznicht-vokalisierends Lesen wahrscheinlich ist oder sogar explizit vorausgesetzt wird.
T. Christian14 nennt instruktive Beispiele von InschriftenInschriften, in denen verba vivendiverba vivendi als LeseverbenLese-terminus verwendet werden (s. dazu 3.8) und verweist auf Inschriften, die den LeserLeser auffordern, „etwas zu lernenLernen oder zu erfahren, was keinen mündlichen Dialog voraussetzt.“15 Außerdem nennt er eine Inschrift aus Kallatis (2./3. Jh.), die mit dem Motiv der Stille spielt und dieses in Verbindung mit der visuellenvisuell Wahrnehmung setzt: „Schau mich an, den stummen ([δ]έρκεο τὴν ἀγέγωνον ἐμέ), Fremder, schau den Stein an, wie ich bejammert auf dem Felsbrocken liege“ (GVI 1279,1f). Ganz explizit ist nicht-vokalisierendeStimmeinsatznicht-vokalisierend Lektüre vorausgesetzt in einer Inschrift aus Kaisareia Hardrianopolis aus der Mitte des 3. Jh. n. Chr.: „lies, während Du in Stille atmest (σιγῇ πνεύσας ἀνάγνωθι)“ (SEG 33 1110); außerdem in IGUR III 1336, Cl. 1,7 und GVI 1342.
Diese Überlegungen gelten analog für die mediale Form ἀναλέγομαιἀναλέγομαι (wörtlich für sich selbst sagen bzw. für sich selbst [auf]sammeln), die als LeseterminusLese-terminus eine facettenreiche Semantik aufweist. Schon in den Epigrammata des KallimachosKallimachos wird ἀναλέγομαι im 3. Jh. v. Chr. verwendet, um die individuell-direkteLektüreindividuell-direkt Lektüre einer Schrift Platons zu bezeichnen.16 Dionysios von Halikarnassos verwendet das PartizipPartizip Medium im Sinne von LeserLeser/RezipientRezipient;17 an anderer Stelle bezeichnet er damit die Rezeption seiner Quellen (Historien namenhafter römischer GeschichtsschreiberGeschichtsschreibung), aus denen er „aufgesammelt“ habe.18 Die Bedeutungsnuance „rezipieren“ im Sinne von „aufnehmen“ (das Lesen der jeweiligen Schrift[en] ist damit impliziert) und „in eigenen Schriften weiterverarbeiten“ ist häufig belegt.19 Aufschlussreich ist zudem eine Stelle bei PlutarchPlutarch. Im Kontext eines Gesprächs über die Bedeutung von alten Schriftzeichen (γράμματαγράμματα) einer InschriftInschriften aus dem Grab der Alkmene, das von Agesilaos geöffnet worden sei (vgl. Plut. de gen. 5 [mor. 577e/f]), gibt Pheidolaos den Bericht von Simmias wieder:
„der Spartaner Agetoridas brachte von Agesilaos eine Menge Schriften nach Memphis zu dem ProphetenProphet Chonuphis […]. Er war vom KönigKönig (von Ägypten) hergeschickt, der dem Chonuphis befahl, wenn er etwas von der Schrift verstehe, solle er schleunigst in Übersetzung zurückschicken. Nachdem dieser dann drei Tage lang für sich allein Schriftzeichen aller Art in alten Büchern durchgesehen [wörtl. für sich selbst aufgesammelt] hatte (πρὸς ἑαυτὸν δὲ τρεῖς ἡμέρας ἀναλεξάμενος βιβλίων τῶν παλαιῶν παντοδαποὺς χαρακτῆρας), schrieb er dem König zurück […], dass diese Schrift den Befehl enthalte, die Hellenen sollen zu Ehren der Musen einen Wettkampf veranstalten; die Schriftzeichen aber gehören zu dem Alphabet, das unter der Regierung von König Proteus im Gebrauch gewesen, und welches auch Herakles, des Amphitryon Sohn, gelernt habe“ (Plut.Plutarch de gen. 5 [mor. 578 f–579a; Üb. OSIANDER/SCHWAB; leicht modifiziert JH]).20
Die Angabe πρὸς ἑαυτόν zeigt zusammen mit der Zeitangabe eindeutig, dass eine Form intensiverAufmerksamkeitvertieft individuell-direkteLektüreindividuell-direktr Lektüre zu philologischen Forschungszwecken vorauszusetzten ist, die mit ἀναλέγομαιἀναλέγομαι bezeichnet wird. Eine mündliche Realisierung der Schriftzeichen zu imaginieren, liegt vom Kontext her nicht nahe.21 Und obwohl PlutarchPlutarch eine fiktive Begebenheit beschreibt, so ist doch anzunehmen, dass hier an sozialgeschichtlichSozialgeschichte reale LesepraktikenLese-praxis angeknüpft wird. Analog definiert Galen die mit ἀναλέγομαι bezeichnete Lesepraxis von Fachtexten weitergehend mit dem Verb ἐντυγχάνωἐντυγχάνω als „gründliches Lesen“, indem er sie durch das Adverb σαφῶς spezifiziert (vgl. Gal.Galenos comp. med. loc. 6 praef., KÜHN 12,894). Ferner findet sich das Verb als LeseterminusLese-terminus auch bei den KirchenväternKirche-nväter.22
Ebenfalls nur im Medium als LeseterminusLese-terminus gebraucht wird das Verb ἐπιλέγομαιἐπιλέγομαι. Für J. Svenbro impliziert das Medium zusammen mit der Vorsilbe, dass der LeserLeser für sich selbst oder ggf. für andere lautLautstärkelaut liest, und präzisiert die Semantik des Verbs als Leseterminus mit der wörtlichen Übersetzung „ein Sagen hinzufügen zu“. Daraus leitet er ab, dass die Schrift bzw. das Geschriebene ohne die Hinzufügung der StimmeStimme durch den Leser unvollständig bliebe, das Lesen folglich das Geschriebene als „Epi-log“ ergänze.23 Dies mag möglicherweise