Lesen in Antike und frühem Christentum. Jan Heilmann

Lesen in Antike und frühem Christentum - Jan Heilmann


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erstarrte Stammmodifikation in lectitolectito deutet darauf hin, dass wiederholendes und intensives LesenAufmerksamkeitvertieft als grundlegendes kulturelles Konzept in der römischen Welt zu verstehen ist, das sich lexikologisch in der Sprache niedergeschlagen hat.57 So hat in ähnlicher Weise auch das Derivat58 relegorelego einen iterativenLektüreMehrfach-Frequenziterativ Sinn und kann dadurch die Intensität eines Leseprozesses betonen.59 Die Lexemverwendung des Derivats perlegoperlego zeigt deutliche Konnotationen zur (genauen) visuellenvisuell Wahrnehmung,60 eine Implikation eines vermeintlichen Normalmodus vokalisierender Lektüre legt die Lexemverwendung jedoch nicht nahe. Zwar wird das Verb zuweilen auch in einem Kontext verwendet, in dem vorgelesen wird,61 hauptsächlich betont das Verb aber die Vollständigkeit des Lesens in Bezug auf den Gesamtumfang des gelesenen Textes,62 wird häufig im Zusammenhang der Lektüre von BriefenBrief verwendet,63 bezeichnet vielfach eine individuelle Lektüreform (z. T. eindeutig ohne stimmlicheStimme RealisierungStimmestimmliche Realisierung), und ist meistens sinnvoll mit dem deutschen Wort „durchlesen“ zu übersetzen:

      Bei Apuleius findet sich z.B. die folgende Formulierung: totam sodes epistulam cedo: sine omnia inspiciam, a principio ad finem perlegamperlego (Apul.Apuleius apol. 82). Diese Stelle ist insofern aufschlussreich, als das Durchlesen „vom Anfang bis zum Ende“ im Kontext dadurch spezifiziert wird, dass jemand den gesamten BriefBrief, dessen kompletter Inhalt ihm vorher vorenthalten wurde, inspizieren, d. h. (mit eigenen AugenAugen) einsehen möchte. Bestätigt vor dem Hintergrund der antiken Leserealien findet sich diese Bedeutungsdimension bei Martial in polemischer Zuspitzung: „Aufgerollt bis zu seinen Hörnern (ad sua cornua) und so, als ob es durchgelesen wäre (et quasi perlectum), bringst du mir das BuchBuch zurück, Septicianus“ (Mart.Martial 11,107; Üb. BARIÉ/SCHINDLER). In der praefatio von Vitruvs siebtem Buch seines Werkes über die Architektur findet sich ein aussagekräftiges Beispiel für den Lexemgebrauch von perlegoperlego: Im Kontext seiner Überlegungen zur Praxis andere AutorenAutor/Verfasser zu plagiieren (Vitr.Vitruv 7 praef. 3) erzählt Vitruv eine (freilich legendarisch ausgeschmückte) Geschichte, die sich in Alexandria zugetragen haben soll (Vitr. 7 praef. 4–7). Ptolemaois (Philopator) hat im Zusammenhang mit Spielen zu Ehren der Musen und Apollons einen LiteraturwettbewerbWettbewerb eingerichtet, für dessen Jury noch eine Person fehlt. Man empfiehlt ihm Aristophanes (von Byzanz), „der mit größtem Eifer und höchster Gründlichkeit Tag für Tag, ohne Pause alle Bücher durchlas“ (qui summo studio summaque diligentia cotidie omnes libros ex ordine perlegeret; Vitr. 7 praef. 5). Diese Stelle ist nun in Bezug auf die Semantik von perlego insofern aufschlussreich, als hier a) nicht der Vortrag, sondern die inhaltliche Qualität der Wettbewerbsbeiträge begutachtet werden soll, und b) die inhaltliche Tiefe der Auseinandersetzung der Bücher seitens Aristophanes betont wird. So ermöglicht es ihm nämlich seine genaue Kenntnis der Bibliotheksbestände, den Publikumsliebling des Plagiats zu überführen, was ihm lautLautstärkelaut Vitruv die Leitung der BibliothekBibliothek eingebracht habe.64 Perlego meint also hier eine besonders gründliche, individuelle Studienlektüre – vollständigUmfangvollständig sowohl im Hinblick auf den Umfang der einzelnen Werke als auch im Hinblick auf den Buchbestand einer Bibliothek. So betont auch Quintilian bezüglich der von ihm empfohlenen Lektüren, dass diese „nicht nur Teil für Teil zu durchforschen sind (per partes modo scrutanda omnia), sondern, ist ein Buch durchgelesen, so ist es unbedingt von neuem vorzunehmen (sed perlectus liberliber utique ex integroresumendus)“ (Quint.Quintilian inst. or. 10,1,20; Üb. RAHN), wobei er im Kontext außerdem betont, dass das Lesen hier der Sorgfalt (sollicitudo) beim SchreibenSchreiben entsprechen soll. Als Begründung für MehrfachlektüreLektüreMehrfach- führt er an, dass viele Texte sich wegen ihres rhetorischen Aufbaus erst vollständig erschließen, wenn man sie einmal komplett gelesen hat (vgl. Quint. inst. or. 10,1,21). Bei PetroniusPetronius Arbiter, T. (sat. 34,6) wird das Durchlesen des titulus auf dem Etikett (pittacium) eines Weingefäßes mit perlego beschrieben. Plinius verwendet das Verb als Gegenbegriff zum Hören (Plin. ep.Plinius der Jüngere 8,20,2). Eine Szene, in der ein Brief eindeutig nicht-vokalisierendStimmeinsatznicht-vokalisierend durchgelesen wird, findet sich bei Sall.Sallust Iug. 71: Der curator des numidischen Generals Nabdalsas findet auf dem Lager seines schlafenden Dienstherren einen achtlos liegengelassenen Brief mit einem Plan für ein Attentat auf KönigKönig Jugurtha. Die Szene impliziert, dass der curator den Brief nicht-vokalisierendStimmeinsatzvokalisierend durchliest, da eine vokalisierende Lektüre den schlafenden Nabdalsa geweckt hätte. Eine weitere aufschlussreiche Brieflektüreszene findet sich in Caesars comentarii zum Gallischen Krieg (Caes.Caesar gall. 5,48,8): Und zwar wird CiceroCicero, Marcus Tullius hier ein Brief gebracht, den Caesar ihm in griechischer Sprache geschriebenSchriftGeschriebenes hat. Diesen liest er erst für sich durch, wie das PartizipPartizip Perfekt Passiv zeigt (ille perlectam), und gibt den Inhalt dann rezitierend in conventu militum bekannt.65 Der hier beschriebene zweistufige Rezeptionsprozess deutet darauf hin, dass das zunächst individuelle Durchlesen des Briefes ohne lautliche Realisierung vorzustellen ist. Denn Cicero ging es wohl zunächst darum, den Inhalt des Briefes wahrzunehmen, um dann zu entscheiden, ob er auch für eine weitere ÖffentlichkeitÖffentlichkeit bestimmt war.66

      Besonders hervorgehoben werden müssen drei weitere Belegstellen für definitiv nicht-vokalisierendeStimmeinsatznicht-vokalisierend Lektüre, die mit dem Verb perlegoperlego zusammengefasst werden;67 und zwar findet sich a) in einem Liebesgedicht von OvidOvidius, P. Naso (am. 1,11) die Aufforderung des lyrischen Ichs an Nape, eine Sklavin der geliebten Corinna, dieser von ihm beschriebene TäfelchenTafel/Täfelchen (tabellae) zu geben und ihr bei der Lektüre des Textes zuzusehen:

      Während sie liest, betrachte – das sag ich dir! – AugenAugen und Stirne:

      Auch aus der Miene, die schweigt, lässt sich ersehn, was dann kommt.

      Las sie’s (perlectis), lasse sofort eine lange Antwort sie schreibenSchreiben.68

      Bei PetroniusPetronius Arbiter, T. findet sich b) eine motivisch verwandte Szene. Chrysis gibt dem Ich-ErzählerErzähler einen BriefBrief von seiner Herrin zur Lektüre, der auf TafelnTafel/Täfelchen (codicilli) geschriebenSchriftGeschriebenes ist. Chrysis, der ja als AdressatAdressat des Briefes den Inhalt kennt, spricht zu dem Ich-Erzähler, nachdem er wahrgenommen(!) hat, dass jener den Brief komplett durchgelesen hat (ut intellexit Chrysis perlegisse me totum convicium … inquit …; Petron.Petronius Arbiter, T. sat. 129). c) Seneca bezeichnet mit dem Verb das Lesen/Wahrnehmen von Buchtiteln, die außen an den im Bücherregal lagernden RollenRolle (scroll) angebracht waren. Er kritisiert die Praxis, BücherBuch nur als Ausdruck kulturellen Kapitals im Speisezimmer oder an anderer exponierter Stelle und in Bücherwänden bis zur Decke zur Schau zu stellen und mit den Buchtiteln und gesammelten Gesamtausgaben Gelehrsamkeit vorzugaukeln und zu prahlen (vgl. Sen. tranq. 9).

      Diese Belegstellen sind nicht nur für


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