Lesen in Antike und frühem Christentum. Jan Heilmann
bezüglich derer er individuell-direkte Lektüre voraussetzt, wie insbesondere aus der retrospektiven Reflexion in Dion Chrys. or. 18,20f hervorgeht.
Das PartizipPartizip wird im Speziellen (häufig im Plural) auch dazu verwendet, den bzw. die LeserLeser direkt als solche anzusprechen. Von den vielen Belegstellen, die dies zeigen,30 ist eine Formulierung bei Vettius ValensVettius Valens besonders erhellend. Und zwar erklärt er leserlenkendLeserlenkung, dass die Beispiele, die er im Folgenden anführt, dem Verständnis des Lesers dienen: Ἔστω δὲ πάλιν ἐπὶ ὑποδείγματος, ἵνα σαφέστερον οἱ ἐντυγχάνοντεςἐντυγχάνω τὴν ἐπίγνωσιν λαμβάνωσιν … (Vett. Val. 1,21).31 Der technische und Zahlen lästige Inhalt32 dieses neunbändigen astrologischen Werkes Anthologiae aus dem 2. Jh. n. Chr. deutet darauf hin, dass es sich nicht um ein BuchBuch für das VorlesenRezeptionkollektiv-indirekt handelt, οἱ ἐντυγχάνοντες hier also individuell-direktLektüreindividuell-direkt lesende AdressatenAdressat sind.
Interessant ist außerdem nicht zuletzt im Hinblick auf Lk 1,3fLk 1,3 f und Act 1,1 fAct 1,1 f, dass z.B. JosephusJosephus, Flavius in seinen Schriften Contra Apionem und Antiquitates samt der Vita, obwohl sie einem gewissen Epaphroditos gewidmet sind,33 die LeserLeser im Plural anspricht.34 An einer anderen Stelle verweist Josephus mit der Formulierung τοὺς πλέον ταῖς ἱστορίαις ἐντυγχάνοντας (Ios. c. Ap. 1,220) darüber hinaus auf einen gut gebildeten35 Rezipientenkreis, der schon viele historiographische Werke gelesen hat; mehrfach spricht er mit dem PartizipPartizip explizit solche Leser an, die auch seine Antiquitates gelesen haben: οἱ ταῖς ἡμετέραις ἀρχαιολογίαις ἐντυγχάνοντες (Ios. c. Ap. 2,136; siehe auch 1,1). Dass Josephus unter den mit dem Partizip von ἐντυγχάνωἐντυγχάνω bezeichneten RezipientenRezipient nicht ein Hörpublikum im Blick hat,36 sondern ein LesepublikumLese-publikum, zeigt die Formulierung in Ios. c. Ap. 2,147 – die Leser sind hier eindeutig das aktiv handelnde Subjekt des Betreibens der Lektüre und nicht die passiven ZuhörerHörer.37
Ferner findet man auch in OrigenesOrigenes’ Contra Celsum eindeutig die LeserLeser im Plural angesprochen, obwohl die BücherBuch an den reichen Hofbeamten AmbrosiusAmbrosius von Mailand von Alexandrien, der Mäzen und Freund von Origenes, an ein Individuum, adressiertAdressat sind (vgl. Orig. Cels. 8,76); z.B. wenn er am Ende des vierten Buches um Gnade bittet, das fünfte Buch zum Nutzen der Leser (ἐπ’ ὠφελείᾳ τῶν ἐντευξομένων) zu finalisieren (vgl. Orig. Cels. 4,99); aber auch im Schlusskapitel ist Ambrosius deutlich von „dem Leser“ unterschieden (vgl. Orig. Cels. 8,76).
Das Derivat ἐπιτυγχάνωἐπιτυγχάνω in seiner Verwendung als LeseterminusLese-terminus38 wurde im Rahmen dieser Arbeit nicht eingehender untersucht. Ferner sei auch darauf hingewiesen, dass im Lateinischen das Verb invenioinvenio (auf etwas kommen/stoßen, etwas finden, antreffen, entdecken) als LesemetapherMetapher des Kontakts verwendet wird (vgl. z.B. Plin. nat.Plinius der Ältere praef. 26, wo individuell-direkteLektüreindividuell-direkt Lektüre vorausgesetzt wird).39
Das stammverwandte Substantiv ἔντευξιςἔντευξις, das sowohl allgemein das Zusammentreffen40, die Zusammenkunft41, aber auch die Unterredung42 sowie im Speziellen die Audienz43 oder die Bitte/Anfrage44 bezeichnet, findet sich analog zum Befund von ἐντυγχάνωἐντυγχάνω in den Quellen ebenfalls als Bezeichnung für Geschlechtsverkehr45 und als MetapherMetapher für die Lektüre oder das StudiumStudium von Texten. So wirbt etwa PolybiosPolybios (1,1,4) am Beginn seiner Historien für sein Werk, indem er die Außerordentlichkeit der von ihm vorzustellenden Begebenheiten hervorhebt, die Jung und Alt zur Lektüre bzw. zum Studium der Abhandlung (πρὸς τὴν ἔντευξιν τῆς πραγματείας) anspornen. Eindeutig in diesem Sinne wird das Lexem auch von Clemens von Alexandria benutzt, wenn er die Praxis der Schriftlektüre der Gnostiker beschreibt (vgl. Clem. strom. 7,49,3 f). Euseb verwendet das Substantiv, um auf die Konsultation von Hss.Handschrift/Manuskript zu verweisen (vgl. Eus.Eusebios von Caesarea mart. pal. 11,4).46
Es wird in den Quellen aber nicht nur dazu verwendet, den LeseaktLese-akt zu bezeichnen, sondern kann auch auf etwas GeschriebenesSchriftGeschriebenes verweisen. So wirft CatoCato der Ältere, Marcus Porcius CaesarCaesar während einer Senatssitzung fälschlicherweise vor, Caesar erhalte ἐντεύξεις καὶ γράμματαγράμματα παρὰ τῶν πολεμίων (Plut.Plutarch Brut. 5), als dieser ein kleines Schriftstück, einen BriefBrief von Catos Schwester Servilia, zugesteckt bekommt. Justin bezeichnet seine Apologie als Anrede (προσφώνησις) und Bittschrift (ἔντευξιςἔντευξις).47
3.5 Lesen als haptischer Umgang mit dem Medium
Die im Folgenden zu besprechenden LeseterminiLese-terminus stehen im Wesentlichen in Zusammenhang mit der ursprünglichen Rollenform antiker BücherBuch und bilden die breit bezeugte ikonographischeLese-ikonographie Repräsentation von Lesenden in der Antike sprachlich ab. Zur Illustration sei diesbezüglich auf die instruktive Aufarbeitung des ikonographischen Quellenmaterials durch T. Birt hingewiesen.1
Das Verb ἀνελίσσωἀνελίσσω hat vermutlich weniger den punktuellen Akt des „Aufschlagens“ als stärker den beim Lesen eines Schriftstücks notwendigen Prozess im Blick, die SchriftrolleRolle (scroll) stetig zu entrollen und gleichzeitigen wieder aufzurollen – eine alltägliche kulturelle Praxis in der Antike, die von den Quellen eher selten als Vorgang an sich thematisiert wird. Diese eigentliche Verwendungsweise von ἀνελίσσω im Kontext von SchriftmedienLese-medium findet sich z. B. in einer Gerichtsszene in Philostrats Vita Apollonii, im Rahmen derer Tigellinus eine Schrift mit einer Anklage gegen Apollonios entrollt, dem Asebie gegen Nero vorgeworfen wird, aber auf wundersame Weise statt der Anklageschrift nur eine unbeschriebene RolleRolle (scroll) vorfindet (vgl. Philostr.Philostratos, Flavius v. Apoll. 4,44).2 Im übertragenen Sinne beschreibt das Verb unterschiedliche Facetten des Lesens und Umgangs mit Texten, wobei diese übertragene Verwendung des Verbs nicht als MetapherMetapher, sondern als MetonymieMetonymie zu kategorisieren ist, da eine Kontiguitätsbeziehung zwischen dem Prozess des Auseinanderrollens oder Ent- und gleichzeitigen Aufrollens und dem eigentlich Bezeichneten (lesen, interpretieren, auslegen) vorliegt. So wird ἀνελίσσω zuweilen in polemisch-abgrenzender Weise gebraucht, um z.B. die Lektüre eines anderen als reines Statussymbol zu entlarven (vgl. Lukian.Lukian von Samosata adv. ind. 27), oder um jemanden dadurch zu diskreditieren, dass seine Lektüre als bloßes „Durchblättern“ abgewertet wird, das allein noch nicht bildet (vgl. z.B. Iul.Iulianus, Flavius