Lesen in Antike und frühem Christentum. Jan Heilmann
kollektiv-indirekte Rezeption vorliegt.2 Für die kollektiv-direkte Lektüre gelten ansonsten die meisten der untenstehenden Überlegungen zur individuell-direkten Lektüre.
Deutlich häufiger als kollektiv-direkteLektürekollektiv-direkt Formen der Lektüre finden sich in den Quellen dagegen Szenen kollektiv-indirekteRezeptionkollektiv-indirektr Rezeption. Dabei ist deutlich, dass das Vortragen von etwas AuswendiggelerntemAuswendiglernen vom schriftmediengebundenen VorlesenRezeptionkollektiv-indirekt qualitativ unterschieden wurde3 und man – gegen die Annahmen des sog. Biblical Performance CriticismBiblical Performance Criticism (s. o. 1.1.2) – bei der Verwendung der gängigen LeseterminiLese-terminus ἀναγιγνώσκωἀναγιγνώσκω und legolego in Kontexten kollektiv-indirekter Rezeption auch von schriftmediengebundenem Vorlesen ausgehen sollte. Der Befund kollektiv-indirekter Formen der Rezeption von Texten ist allerdings so vielfältig, dass es sich verbietet, eine einheitliche griechisch-römische Vorlesekultur zu postulieren. So ist das vor allem funktional orientierte und mit politischen Institutionen verbundene Verlesen eines Textes etwas anderes als Vorlesen im Kontext der literarischen BuchkulturBuch-kultur.
Kollektiv-indirekten Formen der Rezeption von Texten stehen in den Quellen – abgesehen von wenigen Ausnahmen – im Kontext politischer Versammlungen (auch Versammlungen von MilitärsSoldat) und in GerichtskontextenGericht, ferner im Schulkontext und der RhetorikausbildungRhetorik.4 Dabei handelt es sich aber um funktionale und (wie auch im modernen politischen System) mit der jeweiligen Institution fest verbundene Formen des Verlesens von Dekreten, Beschlüssen, Gesetzen etc. bzw. Urteilen bzw. Texten aus dem Bildungskanon auf der einen Seite und um Briefkommunikation zwischen (politischen) Institutionen auf der anderen Seite. Die kollektiv-indirekte Rezeption literarischer Texte ist dagegen eindeutig unterrepräsentiert in den Quellen und beschränkt sich weitestgehend auf recitationesrecitatio, auf die in Kürze zurückzukommen sein wird. Auch Leseakte im Rahmen von religiösen Ritualen (die wissenschaftliche Diskussion bezieht sich v. a. auf Initiationsrituale) sind in den Quellen unterrepräsentiert,5 sollten aber der Vollständigkeit halber und angesichts archäologischer Zeugnisse (dabei handelt es sich freilich meist um recht kurze Texte) erwähnt werden.6 Es ist allerdings äußerst fraglich, inwiefern LesepraktikenLese-praxis, die mit diesen Zeugnissen in Verbindung stehen – die sicherlich einer eingehenderen Untersuchung lohnen – in Analogie zum Lesen biblischer Texte im frühen ChristentumChristentum gesetzt werden könnten (damit ist nicht der Wert dieser kleinen schriftlichen Zeugnisse für die Rekonstruktion der antiken Lebenswelt gemeint!).
Bezüglich der literarischen BuchkulturBuch-kultur ist zunächst noch einmal zu betonen, dass es sich bei der vielfach belegten recitatiorecitatio (s. auch Publikation/Veröffentlichung) nicht um die Normalform der Rezeption von Literatur handelt, sondern um eine untrennbar mit der Präsenz des Autors verknüpfte Institution, die im Rahmen des Redaktionsprozesses eine Korrektivfunktion einnahm, also eine Art Probelauf vor PublikumPublikum (s. auch Lesepublikum) ermöglichte, bevor ein Text endgültig publiziert wurde (s. o. 5). Davon zu unterscheiden ist das VorlesenRezeptionkollektiv-indirekt weitgehend finalisierter und schon für ein größeres Publikum bestimmter (publizierter) Texte, bei dem es dann vor allem in Wettbewerbskontexten als auch in Unterhaltungssituationen auf eine besondere Performanz ankam. Dabei handelt es sich also um eine Form stark inszenierter LesepraxisLese-praxis. Während künstlerische WettbewerbeWettbewerb im klassischen Griechenland durch das DramaDrama geprägt waren (also durch die Inszenierung auf der Bühne und nicht durch das Vorlesen) und auch sonst in der hellenistisch-römischen Welt der rhetorische Wettbewerb dominierte, finden sich im kaiserzeitlichen Rom insbesondere im Kontext der durch Domitian begründeten Kapitolinischen Spiele auch Vorlesewettbewerbe, die allerdings auf poetische Texte beschränkt waren.7 „[S]taged public performance by professionals, people other than the author” war eine absolute Ausnahme.8
Während es sich bei den bisher genannten Kontexten weitgehend um Leseanlässe im öffentlichenÖffentlichkeitöffentlich Raum handelt, ist mit dem antiken GemeinschaftsmahlGemeinschaftsmahl ein weiterer Ort belegt, an dem (insb. literarische) Texte kollektiv-indirektRezeptionkollektiv-indirekt rezipiert wurden und der grundsätzlich eher einen nicht-öffentlichen Charakter hatte. Vorab ist jedoch zu betonen, dass auch recitationesrecitatio im Rahmen des Gemeinschaftsmahls stattfinden konnten9 und auch einige der im Folgenden zu besprechenden Quellen als recitationes verstanden werden können. Allerdings geht aus einem BriefBrief von Plinius an Arrianus hervor, dass recitationes eigentlich in einen anderen Kontext gehören und die ZuhörerHörer für gewöhnlich sitzenHaltungsitzen.10 So wird in den Quellen zuweilen ein auditoriumauditorium als Austragungsort einer recitatiorecitatio (s. auch Publikation/Veröffentlichung) angegeben.11
Die Quellen lassen weiterführende Schlussfolgerungen zur antiken symposialen LesepraxisLese-praxis zu. Während zunächst einige Stellen, an denen es um das Lesen von BriefenBrief beim SymposionSymposion geht, warnen, dass die kollektiv-direkteLektürekollektiv-direkt Rezeption von Briefen als etwas Ungewöhnliches verstanden werden konnte12 und nicht jede LeseszeneLese-szene im symposialen Kontext kollektiv-indirekteRezeptionkollektiv-indirekt Rezeption meint,13 sind diejenigen Stellen aufschlussreich, an denen die Länge der vorgelesenen Texte thematisiert wird. Explizit hebt Martial die Kürze seines zweiten Buches der Epigrammata hervor und formuliert in diesem Kontext:
„Lesen wird dich der Gast beim Wein, wenn man ihm fünf Schöpfkellen gemischt hat, und zwar noch bevor der Becher, den man ihm vorsetzte, lauwarm zu werden beginnt (te conviva legetlego mixto quincunce, sed ante incipiat positus quam tepuisse calix)“ (Mart.Martial 2,1, Üb. BARIÉ/ SCHINDLER).
An zwei weiteren Stellen klagt Martial über zwei Hörerfahrungen beim GemeinschaftsmahlGemeinschaftsmahl, weil der Gastgeber die Situation dazu ausnutzt, seinen Gästen beim Essen schlechte selbstgeschriebene Texte zu servieren (vgl. Mart.Martial 3,45.50), wobei in 3,50 explizit die unzumutbare Länge hervorgehoben wird. Eine ähnliche Situation schildert DiodorDiodorus Siculus, in welcher der sizilianische Tyrann Dionysios I. von Syrakus das SymposionSymposion dazu ausnutzt, seine eigenen, künstlerisch fragwürdigen literarischen Ergüsse vorlesen zu lassen (vgl. Diod. 15,6,2 f). Diese Stellen zeigen exemplarisch, dass Belästigung mit schlechten oder zu langen Texten beim Gemeinschaftsmahl eine sozial unerwünschte Praxis darstellte, was von PlutarchPlutarch explizit reflektiert und dem Verantwortungsbereich des Symposiarchen zugewiesen wird (vgl. Plut. symp. 1,4,3 [mor. 621b – d]).14 Ein guter Symposiarch dulde beim Symposion nur solche Beiträge,
„welche dem Zwecke des Gelages entsprechen, und dieser besteht darin, unter den Gästen mittels des Vergnügens Freundschaften zu erzeugen und zu befördern. Denn das Gelage ist eine UnterhaltungUnterhaltung beim Wein, welche durch die Gefälligkeit zur Freundschaft führt“ (Plut.Plutarch symp. 1,4,3 [mor. 621c], Üb. OSIANDER/SCHWAB).
Diese Stellen belegen, dass beim GemeinschaftsmahlGemeinschaftsmahl eigentlich keine längeren Ganzschriften gelesen wurden.15 Dass dies auch für das Gelehrtenmahl zutraf, wird sodann bei Aulus GelliusGellius, Aulus deutlich.
„Im vertraulichen Zusammensein bei Favorin wurde über Tisch entweder ein altes Gedicht von einem lyrischen Dichter gelesen, oder ein Historien-Abschnitt, in griechischer, ein anderes Mal in lateinischer Sprache (apud mensam Favorini in convivio familiari legilego solitum erat aut vetus carmen