Lesen in Antike und frühem Christentum. Jan Heilmann
[Üb. WEISS, mod. JH]).
Hier ist explizit belegt, dass aus den zumeist längeren Werken der antiken GeschichtsschreibungGeschichtsschreibung beim Gelehrtenmahl nur Abschnitte vorgelesen wurden. Dies erklärt sich freilich auch dadurch, dass das VorlesenRezeptionkollektiv-indirekt nur als Impuls für das eigentlich wichtige Tischgespräch fungierte,16 wie nicht nur im Anschluss an die zitierteZitat Stelle, sondern auch anderswo zu sehenSehen ist.17 Aus Gell.Gellius, Aulus 3,19 geht hervor, dass ein SklaveSklave (servus, d. h. nicht zwingend ein ausgebildeter Lesesklave!) beim ersten Gang einen Abschnitt aus lateinischer oder griechischer Literatur vortrug, über den dann angeregt diskutiert wird. Diese Stelle ist insofern wichtig, als sie, wie schon die Stellen bei Martial, zeigt, dass nicht erst beim SymposionSymposion,18 sondern schon beim Essen selbst gelesen werden konnte.19 Diese Zusammenstellung von Quellen sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Lesen im Vergleich zu anderen Formen der UnterhaltungUnterhaltung beim antiken GemeinschaftsmahlGemeinschaftsmahl nur eine untergeordnete Rolle gespielt hat.20 Neben MusikMusik, Tanz und Spielen ist vor allem die Bedeutung des Tischgesprächs nicht hoch genug einzuschätzen.21 Die Symposienliteratur zeigt eindeutig, dass BücherBuch und LesefrüchteLese-frucht häufig Gegenstand des Gespräches sind, aber dort selbst nicht gelesen wurden.22
Für die neutestamentliche Wissenschaft bedeutet dies, dass ein Modell, das den frühchristlichen GottesdienstGottesdienst als GemeinschaftsmahlGemeinschaftsmahl konzeptualisiert und annimmt, dass die Schriften, die zum NT geworden sind, in diesem Rahmen rezipiert worden seien, mit einigen Schwierigkeiten behaftet ist. Dass im frühen ChristentumChristentum beim Gemeinschaftsmahl (auch) gelesen wurde, könnte aus Gründen der kulturellen Plausibilität sehr gut möglich sein. Auf der Grundlage unserer Quellen lässt sich aber konkret für das frühchristliche Gemeinschaftsmahl nicht sehr viel mehr sagen. Welche Texte und in welchem Umfang diese vorgelesen wurden und zu welchem Zweck, all dies lässt sich nur sehr schwer rekonstruieren. Und wenn man davon ausgeht, dass beim frühchristlichen Mahl etwas vorgelesen wurde, dann muss man angesichts der Analogien in den Quellen zum antiken Gemeinschaftsmahl davon ausgehen, dass die Initiative von einem der Mahlteilnehmer ausging; er es also für angebracht hielt, der TischunterhaltungUnterhaltung eine Vorlesung beizusteuern (vgl. 1Kor 14,261Kor 14,26) – womöglich eine LesefruchtLese-frucht, die er in einem anderen Kontext (vermutlich bei individuell-direkteLektüreindividuell-direktr Lektüre) geerntet hat.
Dass dies etwas anderes ist als geordnetes liturgisches Lesen im GottesdienstGottesdienst, erscheint evident. Die sozialen Konventionen, die in der Symposienliteratur reflektiert werden, verbieten es eigentlich, dass jemand bei einem solchen Anlass einen Text wie etwa den Römerbrief, die EvangelienEvangelium, die Apostelgeschichte oder die Apokalypse im Ganzen vorgetragen haben könnte. Grob geschätzt hätte eine Verlesung dieser Schriften bei einer VortragsgeschwindigkeitLese-geschwindigkeit von 100 Wörtern/Minute folgendermaßen lang gedauert: die Vorlesung des RömerbriefsRöm (gut 7000 W.) hätte knapp 90 Minuten gedauert, die Vorlesung des MkEvMk (ca. 11.000 W.) hätte gut 2 Stunden gedauert, die Vorlesung des LkEvLk (fast 20.000 W.), des MtEvMt (gut 18.000 W.), der ApostelgeschichteAct (gut 18.000 W.)23 hätte jeweils etwa 3 Stunden gedauert, wobei Unterbrechungen zur Erläuterung und Diskussion etc. hier noch nicht eingerechnet sind. Dies übersteigt bei weitem die Zeit, die ein einzelner Beitragender zugestanden bekommen hätte; und selbst wenn man sich gemeinsam zur Lektüre des Textes entschlossen hätte, würde ein Text solcher Länge die kognitivenkognitiv Aufnahmekapazitäten der ZuhörerHörer bei weitem überschreiten. Für die folgenden Überlegungen ist festzuhalten, dass das frühchristliche MahlGemeinschaftsmahl als sozialer Ort nicht monosituativ als Raum für die Rezeption aller schriftlichen Erzeugnisse im frühen ChristentumChristentum modelliert werden kann.24
6.2 Individuelle Lektüre
Die Untersuchung der Leseterminologie hat nur wenige, eindeutig identifizierbare individuell-indirekteRezeptionindividuell-indirekt Rezeptionssituationen,1 dafür aber eine sehr große Belegfülle individuell-direkteLektüreindividuell-direktr LeseszenenLese-szene hervorgebracht, vor deren Hintergrund das Bild einer vor allem durch gemeinschaftliche Leseevents gekennzeichneten BuchkulturBuch-kultur und einer Kultur, in der Menschen aus der OberschichtElite sich grundsätzlich von Lektoren hätten vorlesen lassen, als Übergeneralisierung zu werten ist.2 Insbesondere für die individuell-direkten Formen der Lektüre haben sich die unter 1.5 entwickelten differenzierten Kategorien zur Beschreibung der LeseweiseLese-weise als fruchtbar und in den Quellen nachweisbar erwiesen.
Die dichotome Unterscheidung zwischen vokalisierendemStimmeinsatzvokalisierend und nicht-vokalisierendemStimmeinsatznicht-vokalisierend Lesen durch die dritte Kategorie des subvokalisierendenStimmeinsatzsubvokalisierend Lesens, das in den Quellen explizit bezeugt ist,3 hat sich als sinnvoll herausgestellt und wird auch für die Interpretation der Quellen im nächsten Kapitel heuristischHeuristik wichtig werden. Die Untersuchung der Leseterminologie konnte in Ergänzung zu den zahlreichen Stellen, die nicht-vokalisierendes Lesen in der Antike belegen, noch zahlreiche weitere hinzufügen.4 Zusätzliche Evidenz für nicht-vokalisierende individuell-direkteLektüreindividuell-direkt Lektüre ergibt sich aus den zahlreichen herausgearbeiteten LesemetaphernMetapher und -metonymien – insbesondere aus denen, die z. B. auf die besondere GeschwindigkeitLese-geschwindigkeit5 oder den Grad der kognitivenkognitiv Aufmerksamkeit rekurrieren.6 So wird in den Quellen der Vorteil nicht-vokalisierender Lektüre im Hinblick auf die IntensitätAufmerksamkeitvertieft bzw. die bessere Konzentration thematisiert.7 Der GeschwindigkeitsvorteilLese-geschwindigkeit des subvokalisierenden und nicht-vokalisierenden Lesens bei der individuell-direkten Lektüre ist zunächst aus physiologischer Sicht evident.8 Aber insbesondere einige der Bewegungsmetaphern legen nahe, dass Geschwindigkeitsaspekte beim Lesen in der Antike eine Rolle gespielt haben (s. o. 3.7), z. T. wird die GeschwindigkeitLese-geschwindigkeit der Lektüre sogar explizit thematisiert.9
Aber auch alle Stellen, die funktionale, also suchende, selektiveUmfangselektiv und diskontinuierlicheKontinuitätdiskontinuierlich, intensiv-studierendeStudiumAufmerksamkeitvertieft, auf inhaltliche Aneignung oder EvaluationEvaluation (s. auch Korrektur)/KorrekturKorrektur (s. auch Evaluation) bedachte Zugriffe auf Texte nahelegen, sind durchaus nicht-vokalisierendStimmeinsatznicht-vokalisierend zu denken. Freilich kann in vielen Fällen subvokalisierendesStimmeinsatzsubvokalisierend Lesen ebenfalls nicht ausgeschlossen werden. Allerdings sollte die Relevanz der Frage, ob Leserinnen und LeserLeser bei solchen funktionalen Zugriffen auf die Texte nicht-vokalisierendStimmeinsatzvokalisierend oder subvokalisierend gelesen haben, auch nicht überbewertet werden.
In Bezug auf die Frage nach dem StimmeinsatzStimmeinsatz ist zusammenfassend darauf hinzuweisen, dass bei unmarkiertem Gebrauch der HauptleseverbenHauptleseverb (ἀναγιγνώσκωἀναγιγνώσκω und ἐντυγχάνωἐντυγχάνω sowie legolego) ohne Signale im Kontext keine sicheren Rückschlüsse bezüglich der Vokalisierung bei individuell-direkteLektüreindividuell-direktr Lektüre möglich sind. Vokalisierung war bei der individuell-direkten Lektüre keine Notwendigkeit um Texte, geschriebenSchriftGeschriebenes in scriptio continuaSchriftscriptio continua, verstehenVerstehen zu können (s.o. 4). Die Fähigkeit, nicht-vokalisierendStimmeinsatznicht-vokalisierend lesen zu können, spiegelt sich im Bewusstsein für die innere LesestimmeStimmeinnere (inner reading voice) und das innere OhrOhr, das prominent in spätantiken Quellen reflektiert wird,10 aber auch schon vorher explizit belegt ist11 und sich insbesondere in der usuellen Verwendung von ἀκούωἀκούω als LeseterminusLese-terminus spiegelt (s. o. 3.2).
Vokalisierung bei der individuell-direkteLektüreindividuell-direktn Lektüre – freilich in den Quellen bezeugt – ist dagegen mit spezifischen Funktionen verknüpft: v. a. Lesen als ästhetischesästhetischer Genuss/Vergnügen Klangerlebnis,12 aber auch medizinischeMedizin13 und andere therapeutische bzw. psychagogisch-kathartische Funktionen.14 Gerade die zuletzt genannten Aspekte erscheinen im Hinblick auf meditativ-geistliche religiöse LesepraktikenLese-praxis, die in spätantiken christlichen (auch monastischen) Kontexten zu vermuten sind, interessant und einer vertiefenden Untersuchung wert zu sein.
Als zusätzliche Beschreibungskategorien haben sich auch bewährt, –