Lesen in Antike und frühem Christentum. Jan Heilmann
eher skeptischen Sicht sehenSehen richtige und wichtige Aspekte in den Quellen. Aber sowohl die Vorstellung, dass nahezu jeder jüdische Haushalt in der Antike eine Tora besaß, als auch die These, der Zugang zur Tora wäre lediglich auf eine sehr kleine EliteElite beschränkt gewesen, sind vermutlich extreme Überzeichnungen. Es sei hier noch einmal darauf hingewiesen, dass die Diskussion zuletzt maßgeblich an der Frage nach dem Grad der LiteralitätLiteralität/Illiteralität hängt und die Position der Vertreterinnen und Vertreter der skeptischen Sichtweise von äußerst unsicheren Schätzungen eines sehr geringen Literalitätsgrad abhängig sind (s. dazu o. 1.3.3, insb. Anm. 232–233). Hier ist noch einmal zu betonen, dass der Zusammenhang zwischen Illiteralität/fehlendem BuchbesitzBuch-besitz und dem VorlesenRezeptionkollektiv-indirekt in Gruppen, also dass illiterate Bevölkerungsschichten als intendierte AdressatenAdressat und tatsächliche RezipientenRezipient der überlieferten literarischen Texte des frühen Judentums und ChristentumsChristentum zu verstehen wären, zunächst einmal zu erweisen wäre.
6 Zwischenertrag: Die Vielfalt antiker Lesepraktiken und -kontexte
DieLese-praxis Erschließung der LeseterminiLese-terminus und der materiellenMaterialität Dimension des Lesens in der Antike hat deutlich gemacht, dass die unter 1.5 vorgeschlagene differenzierte Beschreibungssprache angesichts des mannigfaltigen Quellenbefundes in heuristischer Hinsicht notwendig ist, um die Vielfalt und Multifunktionalität antiker LesepraktikenLese-praxis zu untersuchen. Zahlreiche der untersuchten Bildbereiche, aber insbesondere die weit verbreitete Konnotation des Lesens mit dem SehsinnSehen zeigen, dass die in der Einleitung angeführten Thesen zur primär auditivenauditiv Konnotation antiker Literatur und antiker Leseprozesse angesichts dieses Befundes eine grobe Verkürzung darstellt und die Wichtigkeit des Sehsinns für die griechische Kultur vernachlässigt.1 Diese Verkürzung ist darauf zurückzuführen, dass die Quellenauswahl der bisherigen Forschung durch Vorannahmen des oralen und gemeinschaftsbezogenen Charakters des Lesens in der Antike eingeengt ist. Die Vielfalt der Lexeme, MetaphernMetapher und MetonymienMetonymie, die Lesen konzeptualisieren, entspricht der Heterogenität und Multifunktionalität antiker Lesepraktiken. Insbesondere die Untersuchung des Zusammenhangs zwischen den materiellen Grundlagen des Lesens und der physiologischen und kognitionspsychologischen Dimension des Lesevorgangs (4) hat aufschlussreiche Ergebnisse hervorgebracht. Dabei haben die vielfältigen Reflexionen antiker Lesepraxis, die durch die Untersuchung antiker Leseterminologie gefunden werden konnten (3), deutlich gezeigt, dass es sich bei den Beschreibungskategorien zur Physiologie und Kognitionsphysiologie des Lesens nicht um anachronistische Konzepte handelt. Vielmehr korrespondieren diese Kategorien, wie die Befunde in den Quellen und insbesondere die herausgearbeitete Beschreibungssprache des Lesens zeigen, mit der antiken Selbstwahrnehmung des Lesens.
Ein wichtiges Ergebnis der vorhergehenden Untersuchungsschritte besteht darin, dass es sich beim Lesen in der Antike nicht um einen bloßen Akt der Wiederhörbarmachung des im Text gespeicherten Klangs bzw. gesprochenen Wortes handelt, sondern dass Lesen auch in der Antike ein komplexer Vorgang semiotischer Dekodierungsprozesse in der physiologischen und kognitivenkognitiv InteraktionInteraktion mit Texten war, die sich in konkreter, kulturspezifischer Weise materiellMaterialität und darin vor allem visuellvisuell wahrnehmbar manifestiert haben.2 Es ist deutlich geworden, dass die kognitive Verarbeitung des GeschriebenenSchriftGeschriebenes sowohl beim VorlesenRezeptionkollektiv-indirekt (vermutlich die kognitiv herausforderndere Form des Lesens) als auch bei der individuell-direkteLektüreindividuell-direktn Lektüre vor der lautlichen Realisierung mit der Lesestimme oder der inner reading voiceStimmeinnere (inner reading voice) abläuft. Der Einsatz der StimmeStimme ist sekundär und betrifft lediglich die Frage, ob die in unterschiedlichen Formen und komplexen Prozessabläufen von einem Individuum synthetisierten3 und kognitiv verarbeiteten BuchstabenBuch-stabe, Silben, Wörter, Sätze auch in Form von realiter gesprochenem Text weiterverarbeitet werden. Dies gilt im Übrigen auch, wenn jemand eine indirekte Rezeptionssituation mit einem LeseverbLese-terminus beschreibt – was in den Quellen selten vorkommt –, da hier von einer konzeptionellen Übertragung des Phänomens „Lesen“ auf die hörende Rezeption eines Textes auszugehen ist. Es wäre erst zu erweisen, dass jemand in der Antike, der des Lesens nicht mächtig war, eine indirekte Rezeption vorgelesener Texte z.B. mit dem Verb ἀναγιγνώσκωἀναγιγνώσκω oder legolego bezeichnete hätte.
Im Folgenden wird der Befund entlang der wichtigsten oben vorgeschlagenen Kategorien in systematisierender Hinsicht zusammengestellt und anhand aufschlussreicher Quellen illustriert, um davon ausgehend die LesepraxisLese-praxis im antiken JudentumJudentum und frühen ChristentumChristentum untersuchen zu können. Für einen besseren Überblick sind die folgenden Ausführungen entlang der Unterscheidung von kollektiver Rezeption und individueller Lektüre strukturiert. An dieser Stelle ist auch noch einmal auf das Schaubild auf S. 88 hinzuweisen, das die Lektüre der folgenden Ausführungen erleichtern kann.
6.1 Kollektive Rezeption und Lesen beim Gemeinschaftsmahl
KategorienGemeinschaftsmahl wie public/communal readingcommunal reading oder performative readings sind zu grob, um den differenzierten Quellenbefund gemeinschaftlicher Lektüreszenen sinnvoll zu erfassen. Es ist deutlich geworden, dass bezüglich des Verhältnisses der Lesenden/RezipientenRezipient zum SchriftmediumLese-medium zwischen kollektiv-direkteLektürekollektiv-direktr Lektüre (aus einem oder mehreren Schriftmedien) und kollektiv-indirekteRezeptionkollektiv-indirektr Rezeption zu unterscheiden ist. Aufschlussreich war diesbezüglich eine kollektiv-direkte LeseszeneLese-szene bei Plut.Plutarch de Alex. fort. 1,11 (mor. 332e–333a; s. o. S. 119). Alexander liest hier einen BriefBrief seiner Mutter nicht-vokalisierendStimmeinsatznicht-vokalisierend, während Hephaistos über seiner Schulter ebenfalls nicht-vokalisierendStimmeinsatzvokalisierend mitliest (συναναγιγνώσκωσυναναγιγνώσκω). Schon bei XenophonXenophon findet sich die Anekdote, dass Sokrates und Kristobulos beim Griechischunterricht Kopf an Kopf etwas in derselben BuchrolleRolle (scroll) suchen (vgl. Xen. symp. 4,27). CiceroCicero, Marcus Tullius beginnt sein Werk Topica mit einer Leseszene auf seinem tusculanischen Landgut, in der er und Gaius Trebatius in der PrivatbibliothekBibliothek gemeinsam, aber jeder für sich in einer eigenen Rolle lesen (s. o. Cic. top. 1,1). Kollektiv-direktes Lesen (hier in einer öffentlichenÖffentlichkeitöffentlich) Bibliothek ist darüber hinaus auch in den Noctes Atticae von GelliusGellius, Aulus bezeugt (vgl. Gell. 13,20,1). In Kyrills Katechesen ist belegt, dass Frauen bei ihren Treffen (σύλλογος) individuell-direktLektüreindividuell-direkt und nicht-vokalisierend lesen sollen (vgl. Kyr. Hier.Kyrill von Jerusalem Procatechesis 14, s.o. S. 49). In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass lesende Frauen in der griechisch-römischen Welt durchaus breit bezeugt sind.1 Eine kollektiv-direkte Rezeptionssituation setzt wohl auch Eus.Eusebios von Caesarea vita Const. 4,17 voraus. Euseb spricht von einer Versammlung im Palast – von Euseb als „KircheKirche GottesGott“ interpretiert. Bei dieser geht Konstantin eifrig allen voran, und zwar „nahm er die heiligen BücherBuchHeilige Schrift(en) in die Hand und widmet sich der Betrachtung der heiligen Aussprüche (μετὰ χεῖράς γέ τοι λαμβάνων τὰς βίβλουςβίβλος τῇ τῶν θεοπνεύστων λογίων θεωρίᾳ προσανεῖχε τὸν νοῦν)“ (Üb. PFÄTTISCH/BIGELMAIR), bevor er mit den Anwesenden betet. Die Formulierung impliziert eine individuelle Auseinandersetzung mit den Texten. Dieser Befund kollektiv-direkter Leseszenen ist insofern von großer methodischer Relevanz, als er bedeutet, dass, wenn in den Quellen