Lesen in Antike und frühem Christentum. Jan Heilmann
(scroll) möglich wird (Neh 8,5a/bNeh 8,5).
3) Das VolkVolk reagiert auf das Öffnen des BuchesBuch damit, dass es sich erhebt (Neh 8,5c/dNeh 8,5); nach einem Lobpreis durch Esra spricht das Volk mit erhobenen ArmenArmut „Amen, Amen“, woraufhin es sich verneigt und zu Boden wirft (Neh 8,6Neh 8,6). Der Text ist dahingehend nicht ganz eindeutig, ob das Öffnen des Buches impliziert, dass Nehemia aus der ToraTora vorliest, was ja in Neh 8,3Neh 8,3 vorweggenommen worden ist; dann wären sowohl der Lobpreis JHWHs als auch die Reaktion des Volkes als Abschlussritual zu verstehen, wie G. J. Venema mit Verweis auf das „Amen, Amen“ als typical closing formular vermutete.36 Dass das Öffnen eines Schriftmediums metonymischMetonymie einen LeseaktLese-akt implizieren kann, haben die Ausführungen unter 3.5 gezeigt. Umgekehrt kann man die Formulierung וּכְפִתְחוֹ עָמְדוּ כָל־הָעָם (Neh 8,5Neh 8,5) auch so verstehen, dass sich das Volk tatsächlich beim Öffnen des Buches erhebt – die Übersetzung in der LXXAT/HB/LXX mit dem Aorist ἤνοιξεν zeigt eine solche punktuelle Interpretation des Textes – und die geschilderte rituelle Handlung vor der Verlesung geschieht.
4) Der Text betont mehrfach das VerstehenVerstehen des Gelesenen (Neh 8,2 fNeh 8,2 f.8Neh 8,8.12Neh 8,12); es handelt sich also nicht um ein bloßes RitualRitual/ritualisiert, in dem der Text gleichsam als heiliges Objekt behandelt wird. In dieser Hinsicht ist auch die Gruppe von Beteiligten relevant. In Neh 8,7 fNeh 8,7 f werden 13 Personen namentlich genannt, die sich von den in Neh 8,4Neh 8,4 Genannten unterscheiden, und eine in ihrer Größe nicht näher spezifizierte Gruppe von Leviten. Die 13 Personen und die Leviten erklären dem VolkVolk die ToraTora, und zwar indem sie sie abschnittsweise vorlesen und diese Abschnitte dann so erläutern, dass das Volk verstehen kann. Dabei ist festzustellen, dass Esra hier namentlich nicht noch einmal genannt wird. Dadurch entsteht, auch wenn man das Öffnen des BuchesBuch in Neh 8,5Neh 8,5 nicht so versteht, als sei das VorlesenRezeptionkollektiv-indirekt impliziert, m. E. keine große Spannung im Text, da Esra durchaus als unter den Leviten subsummiert verstanden sein könnte bzw. die LeserLeser ja schon aus der expositorischen, „zusammenfassende[n] Vorwegnahme von Neh 8:4–12Neh 8,4–12“37 in Neh 8,3Neh 8,3 wissen, dass er selbst auch vorliest. Viel entscheidender für die Interpretation des Textes ist dagegen, dass es sich bei den namentlich Genannten gerade nicht um Funktionsträger handelt, sondern um „normale“ Menschen aus dem Volk, die hier nicht nur aus der Tora lesen, sondern selbst in die Rolle des Erklärers schlüpfen. Damit setzt sich der Text von Dtn 31,9–13Dtn 31,9–13 deutlich ab,38 wo Mose die Anweisung gibt, dass die Priester und Leviten alle sieben Jahre beim Laubhüttenfest dem Volk aus der Tora vorlesen sollen.39
Daraus folgt: Der Text stellt das VerstehenVerstehen der ToraTora durch das VolkVolk ins Zentrum und hat den Charakter einer gleichsam ätiologischen Begründung eines „demokratisierten“ Zugangs zur Tora40 und deren immer neuer Lektüre.41 Wie diese Form der Toralektüre und -auslegung jedoch genau aussah, muss sozialgeschichtlichSozialgeschichte offenbleiben (und das gilt analog für die Szene in Neh 8,13 fNeh 8,13 f42). Denn erzählt ist ein retrospektiv konstruierter,43singulärerFrequenzsingulär LeseaktLese-akt,44 der Teil einer umfassenderen „Bundeserneuerung“ nach der Rückkehr aus dem Exil darstellt (vgl. Neh 7,72b–10,40Neh 7,72b–10,40)45 und identitätsstiftend wirkt.46 Es ist nicht belegbar, dass die geschilderten rituellen Elemente eine zur Abfassungszeit existente Form eines „Wortgottesdienst“GottesdienstWort- widerspiegelten, die in die erzählte Welt projiziert worden wäre.47 Dafür fehlen einfach sichere Anhaltspunkte.48 Zum einen sind die geschilderten Elemente in alttestamentlichenAT/HB/LXX Texten analogielos49 und können durchaus dahingehend gelesen werden, dass hier die „Lektüre der Tora als Medium der GottesbegegnungGott, näherhin als Aktualisierung des Sinaigeschehens“50 konzeptualisiert wird; zum anderen wissen wir nichts über die Gestalt eines vermeintlichen „Wortgottesdienstes“ (s. u. 7.4) zum mutmaßlichen Zeitpunkt der Abfassung in hellenistischer Zeit.51 Die These, dass Neh 8Neh 8 eine frühe Form des jüdischenJudentum „Wortgottesdienst“GottesdienstWort- zeige, basiert also auf einer petitio principii.
7.1.2 הגה und individuell-direkte Lektüre im AT
Individuell-direkteAT/HB/LXX LektüreLektüreindividuell-direkt kann im biblischen Hebräisch auch durch die Verwendung des Verbes הגה angezeigt werden. Diesbezüglich ist zunächst die Verwendung in Jos 1,8Jos 1,8 zu diskutieren; ein Vers, der üblicherweise als Teil eines Nachtrages durch die deuteronomistische RedaktionRedaktion/redaktionell interpretiert wird.1 JHWH fordert Josua hier zur täglichen Beschäftigung mit der ToraTora auf.
1 Nicht weichen soll dieses BuchBuch der Weisung aus Deinem Mund
2 und Du sollst murmeln darin/darüber (וְהָגִיתָ בּוֹ; LXXAT/HB/LXX: καὶ μελετήσεις ἐν αὐτῷ; Vul: sed meditaberis in eo) Tag und Nacht (יוֹמָם וָלַ֔יְלָה),
3 damit Du beachtest und tust alles, was darin geschriebenSchriftGeschriebenes steht.
Zunächst ist zu diskutieren, ob es sich hier um eine Aufforderung zum Lesen handelt, also dass das von JHWH Geforderte die Einsicht von Schriftrollen erfordert, oder ob es darum geht, schon bekannte und auswendiggelernte Verse zu meditieren, was einige moderne Übersetzungen voraussetzen, wenn sie die Formulierungen „(nach)sinnen über“2 oder to mediate on3 wählen. Die MetapherMetapher, das BuchBuch der Weisungen im Mund zu haben (Jos 1,8aJos 1,8), besagt zunächst, dass Josua Worte der ToraTora mit dem Stimmerzeugungsapparat realisieren soll. Das Verb הגה (Jos 1,8bJos 1,8) spezifiziert den Vorgang insofern, als seine Semantik vor allem mit nicht voll artikulierten Lauten konnotiert ist;4 also ein hörbarerLautstärkehörbar StimmeinsatzStimmeinsatz impliziert ist, bei dem Außenstehende aber nicht unbedingt wahrnehmen können, was genau stimmlich realisiert wird. Mit den eingangs eingeführten Kategorien kann dies treffend als Subvokalisierung beschrieben werden.5
N. Lohfink und G. Fischer leiten aus Dtn 6,6–9Dtn 6,6–9 und 11,18–21Dtn 11,18–21 ab, dass Jos 1,8Jos 1,8 die Praxis der täglichen RezitationRezitation und MeditationMeditation auswendiggelernterAuswendiglernen Toratexte in den Blick nimmt.6 Diese Texte seien, wie K. Finsterbusch in ihrer Habilitationsschrift ausführlich ausführt, nicht durch eigene Lektüre angeeignet worden, sondern durch ein Lehr-/Lernkonzept, das durch VorlesenRezeptionkollektiv-indirekt und Nachsprechen gekennzeichnet ist.7 Dementsprechend deutet sie den Verweis auf den Mund in Dtn 30,14Dtn 30,14 als Verweis auf genau diesen Akt des Auswendiglernens durch Nachsprechen:8 Die mosaische PromulgationPromulgation und mündliche LehreLehre der ToraTora an die Wüstengeneration reflektiere eine solche Lernpraxis zur Abfassungszeit des Textes; Josua hätte in dieser Perspektive dann die Texte schon auswendig gekonnt und wäre nicht auf die Einsicht des Schriftmediums angewiesen gewesen, um die Tora täglich zu murmeln. Am Rand sei angemerkt, dass die LXXAT/HB/LXX in Dtn 30,14Dtn 30,14 ἐν ταῖς χερσίν σου liest und damit, wie 4QDeutb zeigt,9 eine schon in der Überlieferung des hebräischen Textes entstandene Lesart bezeugt, bei der gleichsam als proleptischer Verweis auf Dtn 31,9Dtn 31,9 schon hier die Vorstellung der schriftlichen Verfasstheit der Tora evoziert wird bzw. eine andere Lern- und Studiensituation in den Text eingetragen ist.
Aus den folgenden Gründen ist es aber auch möglich, dass Jos 1,8Jos 1,8 nicht die Rezitationspraxis auswendiggelernterAuswendiglernen ToratexteTora reflektiert, sondern in textpragmatischer Perspektive zur Zeit der Textentstehung einen anderen Modus der Aneignung: die studierendeStudium Lektüre des Textes, die auf das Medium der BuchrolleRolle (scroll) gestützt ist.
1) Jos 1,8cJos 1,8 weist explizit auf den schriftlichen Charakter dessen hin, was gemurmelt werden soll.
2) Auch im näheren Kontext wird in einer synchronen Perspektive auf den literarischen Zusammenhang zum BuchBuch Deuteronomium der schriftliche Charakter von סֵפֶר הַתּוֹרָה explizit hervorgehoben (vgl. Dtn 31,9Dtn 31,9.24Dtn 31,24.26Dtn 31,26), wobei Dtn 31,26 fDtn 31,26 f m.E. zeigt, dass die verschriftliche Form der ToraTora nicht nur für die zukünftigen Generationen, sondern auch schon für die Wüstengeneration eine Relevanz hat. Dabei ist es zudem in diachroner Perspektive durchaus möglich, dass die genannten Stellen in Dtn 31Dtn 31 und Jos 1,8Jos 1,8 (und andere Verse in Jos 1Jos 1) auf eine Ebene der deuteronomistischen