Lesen in Antike und frühem Christentum. Jan Heilmann
ist eine Seltenheit in der kanonischenKanon und deuterokanonischen Literatur und sollte nicht zuletzt wegen der zeitlichen Nähe der Entstehungszeit des Buches Jesus Sirach (insbesondere der griechischen Übersetzung)2 zur neutestamentlichen Zeit und angesichts der breit bezeugten Rezeption dieses Buches im NT3 näher betrachtet werden.
Das überlieferungsgeschichtliche Problem des Buches Jesus SirachSir liegt freilich darin, dass der hebräische Text nur fragmentarisch überliefert und die Textüberlieferung nicht einheitlich ist.4 Dennoch sind einige für diese Studie relevante Stellen erhalten geblieben und in Bezug auf das NT ist ohnehin der griechische Text des Buches Jesus Sirach von größerer Relevanz. Daher werden die hebräische und griechische Textfassung im Folgenden stets vergleichend besprochen. Im überlieferten hebräischen Text finden sich drei Belegstellen für das Verb הגה (jeweils mit בְּ), das sich oben in Kombination mit der Präposition als wichtiger LeseterminusLese-terminus herausgestellt hat (vgl. Sir 6,37Sir 6,37; 14,20Sir 14,20; 50,28Sir 50,28). Während in Sir 6,37 die Gebote (מִצְוָה/ἐντολή) und in Sir 14,20 allgemein Weisheit (חָכְמָה/σοφία) als Gegenstand des Murmelns genannt werden, bezieht sich Sir 50,28 im Rahmen des Buchschlusses (Sir 50,27 f), der in der Forschung mitunter als Kolophon gedeutet5 und z. T. in seiner Authentizität bestritten wird,6 selbstreferenziellselbstreferenziell auf das vorliegende Buch:
Hebräische Fassung | Griechische Fassung | ||||
27 | a | Weisheitslehre und Sprüche in rechter Form | 27 | a | LehreLehre des Verstandes und der Erkenntnis hat in dieses BuchBuch geritzt (παιδείαν συνέσεως καὶ ἐπιστήμης ἐχάραξεν ἐν τῷ βιβλίῳβιβλίον7 τούτῳ) |
b | von Simon Ben Jeschua Ben Eleaser Ben Sira, | b | Jesus, der Sohn Sirachs, des Eleazar, der Jerusalemer, | ||
c | dessen Herz mit [Schrift]Interpretation überquoll | c | der Weisheit (σοφία) aus seinem Herzen herausgegossen hat. | ||
d | und der Kenntnis ausgoss. | ||||
28 | a | Glückselig [ist] der Mensch, der in diesen murmelt (בְּאֵלֶּה יֶהְגֶּה), | 28 | a | Selig [ist], wer sich in diesen umwendet (ὃς ἐν τούτοις ἀναστραφήσεται) |
b | und wer sie seinem Herzen auflegt, wird weise. | b | und weise wird, wenn er sie auf sein Herz legt. |
Sir 50,27Sir 50,27 bezieht sich zurück auf das komplette BuchBuch und kennzeichnet das zuvor Gebotene als „Weisheitslehre (מוּסַר שֶׂכֶל) und Sprüche in rechter Form (מוֹשֶׁל אוֹפַנִּים)“ und nennt den VerfasserAutor/Verfasser. Dabei ist aufschlussreich, dass mit אֹפֶן auf den textlichen Charakter, vermutlich auf die Metrik des Vorhergehenden verwiesen wird.8 Auch der Übersetzer, der die griechische Fassung zu verantworten hat, nimmt wahr, dass der textliche Charakter im Blick ist und interpretiert אֹפֶן sehr frei mit dem Syntagma ἐχάραξεν ἐν τῷ βιβλίῳβιβλίον τούτῳ. Dabei nutzt er mit der Verwendung des Verbes χαράσσω als poetisches Ausdrucksmittel das Bild, dass die BuchstabenBuch-stabe nicht einfach geschriebenSchriftGeschriebenes, sondern wie bei einer InschriftInschriften (Stein, Metall, Holz) eingeritzt sind.9 Sowohl im hebräischen als auch im griechischen Text folgt unter Verwendung verschiedener Verben in Sir 50,27c/dSir 50,27 eine geläufige Metaphorik, die LehreLehre als Flüssigkeit konzeptualisiert. Die komplementäre MetapherMetapher des Aufnehmens dieser Lehre durch Trinken wird im Buchschluss nicht realisiert, kann aber durchaus mit verstanden werden.
Die Rezeption der im BuchBuch befindlichen Weisheitslehre, die Simon Ben Jeschua usw. ausgegossen hat, wird im hebräischen Text mit der oben schon als LeseterminusLese-terminus identifizierten Wendung הגה + בְּ („murmeln in“) beschrieben. Das Demonstrativpronomen im Plural (בְּאֵלֶּה) zeigt dabei an, dass Sir 50,28Sir 50,28 sich nicht einfach auf die in Sir 50,27c/dSir 50,27 genannten Aspekte zurückbezieht, sondern auf den gesamten Buchinhalt, also auf die geschriebeneSchriftGeschriebenes „Weisheitslehre und [die] Sprüche in rechter Form“, d. h. selbstreferenziellselbstreferenziell auf das vorliegende Buch verweist. Dies wird im Griechischen umso klarer, als das Demonstrativpronomen τούτοις definitiv keinen grammatischen Bezug zu einer der Konstituenten im vorhergehenden Vers aufweist. Der griechische Text von Sir 50,28 bietet im Vergleich zum hebräischen Text aber noch eine weitere, für das Thema dieser Studie aufschlussreiche poetische Formulierung. Anders als in der LXXAT/HB/LXX üblich – und auch anders als in Sir 6,37Sir 6,37; 14,20Sir 14,20 – verwendet der Übersetzer zur Übersetzung von הגה nicht das Verb μελετάω, sondern das Verb ἀναστρέφωἀναστρέφω im Passiv. Während die Septuaginta Deutsch den Vers so versteht, als wären die ethischen Konsequenzen der Weisheitslehren für das individuelle Handeln im Blick („selig, der nach diesen Dingen leben wird“),10 referiert ἀναστρέφωἀναστρέφω (Med.-Pass. sich umwenden, sich umtun, ἔν τινι [!] sich beschäftigen mit11) hier m. E. nicht im übertragenen Sinne auf den Lebenswandel eines einzelnen Menschen, sondern auf den Prozess der Auseinandersetzung bzw. der Beschäftigung mit dem Inhalt des vorliegenden Buches und im Kontext des Buchschlusses im Sinne der unter 3.7 herausgearbeiteten Bewegungsmetaphorik ganz konkret auf den Leseprozess. Der LeserLeser wendet sich in der Weisheitslehre, d. h. in den Zeilen des im vorliegenden Buch eingeritzten Textes.12
Diese Interpretation wird dadurch gestützt, dass der mit dem Verb ἀναστρέφωἀναστρέφω bezeichnete Vorgang (Sir 50,28aSir 50,28) mit der Semantik des Verbes χαράσσω (Sir 50,27aSir 50,27) korrespondiert und ein stimmiges Gesamtbild ergibt. So nennen die Griechen die zeilenweise wechselnde Schriftrichtung, die sich auf (v. a. – aber nicht nur – frühen) InschriftenInschriften finden lässt, βουστροφηδόν (βοῦς [Ochse] + στρέφω [wenden]), weil die Zeilen auf einer so gestalteten Inschrift der Spur eines vom Ochsen gezogenen Pflugs gleichen. Diese Form der Schriftgestaltung findet sich zwar v. a. – aber nicht nur – auf Inschriften aus der Archaik, der Hauptbeleg für die Bezeichnung stammt jedoch von Pausanias aus dem 2. Jh. n. Chr.,13 was die Kenntnis dieser Gestaltungsform von Schrift noch für die römische Zeit belegt. Aus der Perspektive des Buchschlusses handelt es sich beim Buch JesusSir Sirach also – um beide im Text verwendeten metaphorischenMetapher Konzepte aufzunehmen – um in Text/Buch gegossene Weisheitslehre, in dem sich die LeserLeser umwenden sollen.
B. M. Zapff hat m. E. in seinem Kommentar richtig gesehen, dass der hebräische Text einen Bedeutungszusammenhang mit Ps 1,1Ps 1,1 herstellt und damit zugleich die allgemeine Aussage in Sir 14,20Sir 14,20 konkretisiert. „Ähnlich wie man entsprechend Ps 1,2Ps 1,2 die ToraTora halblaut murmelnd meditieren soll, bis sie in Fleisch und Blut übergeht, so auch die Weisungen Sirachs. Ohne falsche Bescheidenheit stellt sich Sirach damit in die Reihe der authentischen