Lesen in Antike und frühem Christentum. Jan Heilmann
Josua, also an eine Führungsfigur, sodass eine Parallelität zu den auf das gesamte VolkVolk bezogenen Aussagen in Dtn 6,6–9Dtn 6,6–9 und 11,18–21Dtn 11,18–21 – wie von N. Lohfink und G. Fischer gesehen (s. o.) –, nur schwerlich postuliert werden kann. Wie von den beiden richtig gesehen, können LeserLeser in synchroner Perspektive eine Verknüpfung zum KönigsgesetzKönig in Dtn 17,14–20Dtn 17,14–20 ziehen, da Josua „als Nachfolger Moses und im Vorblick auf Joschija […] zweifellos eine Art vorlaufende Königsgestalt“ ist.12 Allerdings spricht doch gerade Dtn 17,18 fDtn 17,8 f dafür, dass die Idee einer Beschäftigung der Führungsperson mit der ToraTora nicht eine MeditationMeditation auswendiggelernterAuswendiglernen Texte voraussetzt, sondern die Einsicht einer BuchrolleRolle (scroll).13
4) Auch die Verwendung der Präposition בְּ, der hier die Funktion der Lokalisation zukommt,14 fügt sich in eine solche Interpretation: So wird בְּ auch an anderer Stelle zur Anzeige des LesemediumsLese-medium verwendet (vgl. Dtn 17,19Dtn 17,19[!]; Neh 8,3Neh 8,3[!].8Neh 8,8.14Neh 8,14[!]; 9,3Neh 9,3; 13,1Neh 13,1; 2Chr 34,182Chr 34,18; Jer 36,6Jer 36,6.8Jer 36,8.14Jer 36,14)15 bzw. bezeichnet, dass etwas in/auf etwas geschriebenSchriftGeschriebenes ist (vgl. aus der Vielzahl der Belege z.B. Ex 17,14Ex 17,14; Num 5,23Num 5,23; 1Kön 2,31Kön 2,3; 2Chr 13,222Chr 13,22; Neh 6,6Neh 6,6; 10,35Neh 10,35; Ps 40,8Ps 40,8; Dan 9,11Dan 9,11.13Dan 9,13; vgl. außerdem die Formulierung „es ist gesagt in dem BuchBuch“ in Num 21,14Num 21,14). Entsprechend übersetzen in Jos 1,8Jos 1,8 die ZB2007 die Präposition mit einem lokalen Sinn („du sollst sinnen über ihm“), die BigS macht ein Objekt daraus („murmle es [scil. das Buch]“), die verschiedenen Ausgaben der Lutherbibel verwenden ein Verb der visuellenvisuell Wahrnehmung („betrachte es“) und die Übersetzung von F. E. Schlachter übersetzt frei: „forsche darin“. Diese Übersetzungen setzen damit alle voraus, dass die hebräische Formulierung in Jos 1,8Jos 1,8 eine Konsultation des Schriftmediums impliziert, wobei allerdings sowohl in der Lutherbibel als auch in der Übersetzung von Schlachter die Assoziation des StimmeinsatzesStimmeinsatz verloren geht. Um diese Konnotation deutlich zu machen, ist hier in Anknüpfung an die Wendung „lesen in etwas“ die (im Deutschen zwar ungewöhnliche) Formulierung „darin murmeln“ gewählt worden.16 Der MerismusMerismus יוֹמָם וָל֔יְלָה und die Verben שׁמר und עשׂה verweisen sodann auf eine gewisse Parallelität zur LeseszeneLese-szene in Dtn 17,19Dtn 17,19, wo mit der Zeitangabe כָּל־יְמֵי חַיָּיו ein ähnlicher Zeithorizont im Blick ist, wo ebenfalls die beiden Verben vorkommen und wo es eindeutig um individuell-direkteLektüreindividuell-direkts Lesen mit dem Medium RolleRolle (scroll) in der Hand geht. Diese Interpretation wird ferner durch Belegstellen unterstützt, an denen μελετάω im Sinne eines mediengestützten Studierens verwendet wird,17 sowie durch die lateinische Übersetzung von הגה/μελετάω, und zwar insofern, als wir aus einem BriefBrief von SidoniusSidonius Apollinaris Apollinaris18 wissen, dass der mit meditor beschriebene Vorgang eine Beleuchtung mit Kerzen und Leuchtern erforderlich machte, also durchaus an ein Schriftmedium zurückgebunden sein konnte.
Jos 1,8Jos 1,8 kann also als Hinweis auf eine individuell-direkteLektüreindividuell-direkt, subvokalisierendeStimmeinsatzsubvokalisierend Studienlektüre der ToraTora zum Zwecke des LernensLernen gelesen werden, die historisch zurückprojiziert wird. Josua wird damit redaktionellRedaktion/redaktionell als normativer ModellleserModellleser figuriert, an dem sich die LeserLeser des Textes orientieren sollen.19 Jos 1,8Jos 1,8 hat eine gewisse Ähnlichkeit zur Forderung HorazHoraz, man solle die griechischen Vorbilder bei Tag und bei Nacht drehen (Hor. ars. 268f; s. o. S. 175), also sich intensivAufmerksamkeitvertieft durch individuell-direkte Lektüre aneignen. Der Unterschied liegt allerdings darin, dass das vorgesehene StudiumStudium der Tora eine iterativeLektüreMehrfach-Frequenziterativ Lektüre eines eng umgrenzten Textumfangs voraussetzt (klassischerweise als intensive Lektüre bezeichnet) und die griechischen Vorbilder bei Horaz einen viel größeren KorpusKorpus an Texten voraussetzen, wobei nicht sicher gesagt werden kann, wie oft die jeweiligen Einzeltexte konsultiert werden sollen. Zudem ist das Ziel der Lektüre leicht anders gelagert, Horaz geht es um die Verbesserung der poetischen Ausdruckskraft – also um ein ästhetischesästhetischer Genuss/Vergnügen Studienziel –, während die Lektüre der Tora ein die Ethik betreffendes Studienziel adressiertAdressat. Dass es sich bei der Aufforderung im Hinblick auf „Josua als politischen Verantwortungsträger“ um einen normativ-utopischen Anspruch (des kontinuierlichen Tora-Studiums durch eine Leitungsperson) handelt,20 ist im Hinblick auf die Fragestellung der Studie irrelevant, da das herausgearbeitete Lesekonzept, das eine – redaktionell eingetragene – Projektion darstellt, also vom Text für die Zeit der Redaktion historisch bezeugt wird.
Es gibt noch weitere Belegstellen von הגה, an denen ein solches LektürekonzeptLektüre-konzept noch eindeutiger vorauszusetzen ist. So wird das Verb in Ps 1,2Ps 1,2 ebenfalls im Blick auf die ToraTora verwendet: Selig ist derjenige, der nicht …, sondern der Freude an der Tora hat und in der Tora murmelt (וּבְתוֹרָתוֹ יֶהְגֶּה) am Tag und in der Nacht“ (Ps 1,1 fPs 1,1 f). Die Formulierung gleicht derjenigen in Jos 1,8Jos 1,8 (הגה + בְּ + Tora + Tag und Nacht) und viele moderne deutsche Übersetzungen interpretieren die Formulierung als individuell-direkteLektüreindividuell-direktn LeseaktLese-akt.21 Die ebenfalls zu findende Übersetzung mit „(nach)sinnen über“22 und mit to mediate on23 verschleiert dagegen die mögliche Assoziation eines individuell-direkten Leseaktes, die der hebräische Text erlaubt.24 Die Deutung von Jos 1,8Jos 1,8 als Verweis auf individuell-direkte Lektüre findet eine rezeptionsgeschichtliche Bestätigung. So formuliert HieronymusHieronymus in seinen Excerpta de Psalterio, die „MeditationMeditation des Gesetz GottesGott besteht nicht nur im Lesen der Schrift (in legendislego scripturisscriptura), sondern auch im Ausüben dessen, was geschriebenSchriftGeschriebenes ist“ (Hier. com. in Psal. 2,2). Auch TestLev 13,2 f, wo zum Unterrichten der Kinder aufgefordert wird, damit sie durch das beständige Lesen der Tora (ἀναγινώσκοντεςἀναγιγνώσκω ἀδιαλείπτως τὸν νόμον τοῦ θεοῦ) zu Verständnis gelangen können, reflektiert das Ideal eines dauerhaften (individuell-direkten) Studiums der Tora im Sinne von Jos 1,8Jos 1,8 und Ps 1,2Ps 1,2. Regelmäßiges Lesen – allerdings ohne direkten Bezug auf die genannten Stellen und ausgedrückt mit der aus der griechisch-römischen Welt bekannten Konzept des haptischen Umgangs mit dem LesemediumLese-medium – ist ferner auch in 1Makk 12,91Makk 12,9 im Blick: die heiligen BücherBuchHeilige Schrift(en) in den Händen zu halten, d. h. zu lesen, spendet Trost (παράκλησις).
7.1.3 Lesepraktiken in der Henochliteratur
TrotzLese-praxis der fragmentarischen Überlieferung finden sich im äthiopischen Henochbuch einige, für die Fragestellung dieser Studie relevante Stellen. Da das BuchBuch allerdings in kompletter Form nur in äthiopischer Übersetzung einer griechischen Übersetzung aus dem Hebräischen oder Aramäischen (ca. 500 n. Chr.) erhalten ist,1 stehen einige der Überlegungen im Folgenden notwendigerweise unter dem methodischen Vorbehalt der Grenzen der Rückübersetzbarkeit.
Im BuchBuch der Wächter, das auf das 3. Jh. v. Chr. zurückgeht,2 ist eine Passage im Griechischen erhalten, in der die gefallenen Wächter (vgl. äthHen 12,4–6äthHen 12,4–6) Henoch bitten, eine Bittschrift (ὑπόμνημα τῆς ἐρωτήσεως) für sie zu schreibenSchreiben, die dieser vor (ἐνώπιον) GottGott vorlesen (ἀναγινώσκωἀναγιγνώσκω)3 möge (äthHen 13,4äthHen 13,4). Henoch kommt dieser Bitte nach und verfasst die Bittschrift (äthHen 13,6äthHen 13,6äthHen 13,7).
13,7 | a | Und ich ging hin und setzte mich (καθίζω) an die Wasser Dan im [Lande] Dan, |
b | welches rechts [südlich] von der Westseite des Hermon liegt, | |
c |
und las ihre Bittschrift (ἀνεγίγνωσκονἀναγιγνώσκω τὸ ὑπόμνημα τῶν δεήσεων αὐτῶν), bis ich einschlief. |