Janowitz. Rolf Schneider

Janowitz - Rolf  Schneider


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Oder gerade deshalb.

      Er löste sich vom Fenster und kehrte zurück zu ihrem Bett. Er hockte sich neben sie und fasste ihre Hände.

      Du bist mir, sagte er, immer noch eine Antwort schuldig. Sidi.

      Ich weiß. Lass mich darüber nachdenken.

      Rilke sollte zum Zahnarzt Václav Poláček fahren. Diesmal würde ihn nicht Sidi chauffieren, vielmehr würde er jene Kutsche benutzen müssen, die ihn vom Bahnhof Beneschau abgeholt hatte. Es war ein trüber Tag, der Niederschlag bringen konnte. Das Gefährt besaß einen Regenschutz, der fürsorglich aufgespannt worden war.

      In der Kutsche würde seine Fahrt deutlich länger dauern als in Sidonies Automobil. Er trug Briefe bei sich, hellblaue Couverts, es war dies die von ihm bevorzugte Papierfarbe. Er würde die Sendungen in Beneschau aufgeben, da er vermeiden wollte, dass man in Schloss Janowitz von den Adressatinnen und dem Umfang seiner Korrespondenzen allzu viel erfuhr.

      Einer der Briefe ging an Prinzessin Marie von Thurn und Taxis. Darin schilderte er eingehend seinen augenblicklichen Seelenzustand und erwähnte dabei, wie nebenher, seine finanziellen Nöte. Er hoffte, es würde der Prinzessin eine entsprechende Zuwendung entlocken. Zusätzlich wollte er erfahren, ob Marie eine neue Séance veranstaltet und ein neues Medium gefunden habe. An einer von Maries spiritistischen Sitzungen hatte er teilgenommen, und der Verlauf hatte ihn sehr bewegt.

      Ein anderer Brief ging an Magda von Hattingberg. Die bestand nach wie vor auf einer raschen Wiederbegegnung, die er in ebenso höflichen wie kunstvollen Formulierungen abzulehnen wusste. Er spürte deutlich, dass er ihrer inzwischen etwas überdrüssig geworden war. Trotzdem ist alles gut, schrieb er ihr, war ich doch zutiefst in deiner Seele, in deinem Herzen, wie das Kind in der Mutter. Derart gedachte er sie zu trösten.

      Der dritte Brief ging an Loulou Albert-Lazard. Sie war eine seiner jüngeren Bekanntschaften, eine Frau mit überraschend freizügigen Ansichten hinsichtlich der körperlichen Liebe, darin nicht unähnlich ihrer Vornamensschwester Andreas-Salomé. Loulou wusste einige Gedichte von ihm auswendig und ließ ihn erkennen, dass sie ihn auch körperlich begehrte, was ihn ebenso faszinierte wie erschreckte. Sie selbst war verheiratet, mit einem sehr viel älteren Münchner Fabrikanten, der durch seine Erfindungen in Sachen Fotografie und den Handel damit ein Vermögen angehäuft hatte. Es kam seiner Frau zugute und war für Rilke ein zusätzliches Motiv des Interesses. Loulou hatte ein Kind, das bei Verwandten aufwuchs. Sie liebte die Unabhängigkeit, die Kunst, den Luxus, Frankreich und Rilke. Geboren war sie in Metz, als Tochter eines Bankiers, in München hatte sie Malerei studiert. Dass Du endlich gekommen bist, schrieb ihr Rilke. Bin ich nicht von jeher auf Dich zugegangen? Loulou war allerdings nicht nur nicht adelig, sie war außerdem Jüdin.

      Sie war Jüdin, wie Karl Kraus Jude war. Mit dem lebte Rilke zurzeit unter einem gemeinsamen Schlossdach und musste sich fortwährend die Frage stellen, wie es um das wahre Verhältnis zwischen Kraus und Sidonie bestellt war. Dass die beiden eine Liebesbeziehung hatten, war eindeutig. Dass sie diese Beziehung zu verbergen suchten, machte die Angelegenheit aufregend. Die Prinzessin Marie hatte ihm, Rilke, einmal geschrieben, er sei verliebt, immerzu verliebt, was die reine Wahrheit war, und derart hatte er sich in Sidonie verliebt.

      Er hatte es ihr zu verstehen gegeben, in seiner Art, mit sanften Berührungen und ausführlichen Briefen. Sie schien nicht unbeeindruckt. Wem also neigte sie mehr zu, ihm oder Kraus? Rilke wusste es nicht, und dies ärgerte ihn. Noch mehr ärgerte ihn, dass er bei Sidonie einen Wettbewerber hatte, der ihm womöglich überlegen war. Gab der Umstand, dass er selbst jetzt nach Beneschau in einer Kutsche fahren musste statt mit Sidonie in deren Automobil, womöglich ein Hinweis? Oder war Sidonies Automobil bloß defekt? Solche Maschinen, das wusste er von Prinzessin Marie, verhielten sich überaus launisch.

      Es begann zu regnen. Tropfen fielen auf die Überspannung und erzeugten ein Trommelgeräusch. Der Kutscher rief dem Pferd etwas zu und ließ dazu seine Peitsche schnalzen.

      Rilke dachte an Kraus. Der Mann besaß einen scharfen jüdischen Verstand, für den er auch berühmt war. Seine Prosa war gelenkig, doch fehlte ihr jene Behutsamkeit, die ihm, Rilke, im Übermaß zur Verfügung stand. Worauf würde sich Sidie lieber einlassen? Sie war eine Frau, und Frauen verlangten nach Behutsamkeit, auch bei ihren Lektüren.

      Die Kutsche fuhr durch Beneschau. Der Regen hatte aufgehört, Rilke bat den Kutscher zu halten. Er sprang aus dem Wagen und warf am Straßenrand seine drei Briefe in einen Postkasten. Dann stieg er wieder ein. Die Kutsche fuhr weiter, bis zu dem Haus mit der Ordination des Zahnarztes Václav Poláček.

      Rilke war jetzt fest entschlossen, die Konkurrenz mit Karl Kraus durchzustehen.

      Seit mehreren Jahren ließ sich Karl von Nádherný die Londoner Zeitung The Times schicken. Sie traf in Janowitz mit Verspätung ein, Charlie hatte da die wichtigen Neuigkeiten bereits den Prager und Wiener Blättern entnommen, die er sich außerdem hielt. In der Times überflog er die Wirtschaftsmeldungen, die ihn und die österreichischen Regionen selten betrafen, hauptsächlich bezog er das Blatt für May-May, seine einstige Erzieherin.

      Die las The Times am späten Vormittag, unmittelbar nach deren Eintreffen. Sie las in der Bibliothek, gewöhnlich in Charlies Anwesenheit, der seinerseits in die Neue Freie Presse aus Wien vertieft war. So auch jetzt. Wie üblich suchte sie zunächst die Obituaries, die ausführlichen Nachrufe also, in denen es um Personen ging, die ihr völlig unbekannt waren. Danach las sie die Gesellschaftsnachrichten.

      Auf der zweiten Seite entdeckte sie eine Überschrift betreffend die Regierung in Wien. In dem zugehörigen Artikel ging es um den Mord in Sarajevo, um Diplomatie, um Russland, Deutschland, Serbien und einen möglichen Krieg, in den auch England hineingezogen werden könnte. May-May las es und wusste nicht, ob ein solcher Krieg, wenn er denn stattfand, unmittelbare Folgen für ihre Person haben könnte, schließlich besaß sie weiterhin die britische Staatsbürgerschaft.

      Sie fragte Charlie, was er von der Sache halte. Wie üblich sprachen die beiden miteinander englisch. Charlie, rauchende Tabakspfeife im Mund, ließ seine Zeitung sinken und sagte, nach seiner Kenntnis sei das Vereinigte Königreich von dem Konflikt nicht unmittelbar betroffen. May-May wollte wissen, ob man da sicher sein könne.

      Sicher, sagte Charlie, sei in der großen Politik gar nichts.

      Wie es denn überhaupt zu dem Konflikt gekommen sei? Was das Attentat auf den Kronprinzen damit zu tun habe?

      Charlie nahm die Pfeife aus dem Mund, legte sie in einen kristallenen Aschenbecher und begann mit einer ausführlichen Erklärung.

      Das Kaiserreich Österreich-Ungarn sei, wie May-May wahrscheinlich wisse, ein Vielvölkerstaat. Das sei seit Langem so, und trotz aller Schwierigkeiten und Auseinandersetzungen habe es sich in dieser Form halten können. Gleich hinter Ungarn beginne der Balkan. Das sei eine mehr als unruhige und komplizierte Gegend, spätestens seit die osmanischen Türken sich von dort völlig zurückgezogen hätten. Immerfort bloß Intrigen, Spannungen, Religionsstreitigkeiten, Verschwörungen, Bürgerkrieg. Um an der Südflanke seines Reiches Frieden zu schaffen, habe Österreich vor ein paar Jahren die Herrschaft über die Territorien Bosnien und Herzegowina angetreten. Der Friede habe auch gehalten, aber er habe gefährliche Gegner erbracht, voran das Königreich Serbien. Sarajevo, Ort des Attentats, sei die Hauptstadt von Bosnien. Dort habe der Erzherzog die Ansprüche der Krone repräsentieren sollen. Mit seiner Frau sei er im offenen Wagen durch die Stadt gefahren, was vielleicht etwas leichtsinnig gewesen sei, denn an einer Straßenecke seien die beiden dann heimtückisch niedergeschossen worden. Das habe wohl eine Art Fanal des serbischen Widerstands bedeuten wollen. Der Attentäter sei ein Verschwörer, seine Hintermänner säßen im Königreich Serbien und würden von der dortigen Regierung gedeckt. Wien warte dringlich auf eine Erklärung aus Belgrad, auf eine Entschuldigung, auf die Verfolgung und Bestrafung aller Verschwörer. Soviel er wisse, werde die Wiener Regierung dies demnächst fordern.

      Was denn mit England sei, wollte May-May wissen.

      Serbien und Russland seien verbündet, sagte Charlie. Russland wiederum sei verbündet außer mit Frankreich auch mit England.

      Und?

      Falls


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