Der Pontifex. Karla Weigand
zugeht.“
Wie üblich hatten sich unisono andere wichtige westliche und sogar arabische Presseorgane dieser Meinung angeschlossen und Maurice Obembe glaubt mit einem gewissen Recht, sich im Glanz seines Vaters sonnen zu können und dass ihm das auch bei seiner Wahl zum Papst zugutekommen wird: „Zumindest wird mir Papas Ansehen nicht schaden!“
„Se non è vero, è ben trovato!“
(Italienisches Sprichwort, dem Sinne nach: „Wenn’s auch nicht der Wahrheit entspricht, ist’s immerhin gut erfunden!“)
Was der Kardinal mit Sicherheit weiß, ist, dass ihm auch sein Vater wünscht, dass er sein von Jugend an selbstgestecktes Ziel, den höchsten Posten im Vatikan, erreichen kann.
Als Kardinal Obembe noch ein ganz junger Priester gewesen war, hatte sein Vater ihm erklärt: „Weißt du, mein Sohn, gut zu regieren ist gar nicht so furchtbar schwer! Die meisten Regierungschefs afrikanischer Staaten scheitern an ihrer rücksichtslosen und maßlosen Gier. Wobei sie sich kein bisschen von unseren ehemaligen weißen Kolonialherren unterscheiden, die auch nur zu uns gekommen sind, um sich an uns zu bereichern und um uns auszuplündern.
Das schwarze Pack der herrschenden Oberschichten sollte sich schämen!“, hatte Patrice Obembe sich ereifert. „Es kriegt den Hals nicht voll, plündert die Ressourcen ihrer eigenen Territorien, lässt die eigene Bevölkerung ausbluten, bereichert sich selbst in geradezu obszönem Ausmaß – und wundert sich dann, wenn andauernd Unruhen ausbrechen und jahrelange Bürgerkriege ihr Land verheeren.
Und die Welt schaut zu und lässt diese Schweine gewähren! Anstatt die unfähigen Regierungschefs zum Teufel zu jagen, wenn es sein muss, auch mit Gewalt, nehmen die Europäer die in Scharen ihre Heimatländer verlassenden Afrikaner bei sich auf, anstatt ihnen ernstlich nahezulegen, sich endlich aufzuraffen und Revolutionen anzuzetteln.
Verstehe einer diese Weißen! Sie müssten es doch eigentlich besser wissen! Mussten sie sich doch ihre bürgerlichen Freiheiten ebenfalls gegen ihre Adelscliquen blutig erkämpfen. So wird sich nie etwas ändern. Ich vermute, viele Europäer möchten damit irgendwie ihr schlechtes Gewissen, das sie insgeheim gegenüber Afrikanern empfinden, übertünchen!“
Nach einer Weile hatte er vertraulich hinzugefügt: „Hör zu, Maurice! Ich bin wahrlich kein Heiliger! Deswegen aber auch kein Idiot und vor allem kein Verbrecher, der sein Volk ausplündert! Ich weiß einfach, wann es genug ist. Das Vermögen, das ich für unsere Sippe beiseiteschaffen werde, wird sich sehen lassen können. Es wird für jeden Einzelnen reichen und auch noch für etliche Generationen.“
„Weshalb dich sehr viele bewundern, Papa, ist die Tatsache, dass in unserem Land Frieden herrscht und es relativen Wohlstand für alle gibt, seitdem du vor etlichen Jahren das Ruder in Ghanumbia übernommen hast“, hatte ihm damals der junge Kaplan Maurice Obembe geantwortet. „Es werden mittlerweile sogar Stimmen laut, die dir den nächsten Friedensnobelpreis zuerkennen möchten!“
Darauf hatte Präsident Obembe herzlich gelacht und dabei sein bewundernswert makelloses Gebiss präsentiert, über das er auch heute noch, als alter Mann, verfügt: „Ich würde den Preis glatt annehmen! Aber“, fügte er verschmitzt hinzu, „man möge mit der Ehrung bitte noch ein wenig warten. Ich bin nämlich mit meinen Plänen noch lange nicht am Ende!“
Worum es sich dabei handeln würde, wollte „Landesvater Patrice“ damals noch nicht verraten – nicht einmal seinem geweihten Priestersohn. Der hatte auch nicht weiter insistiert und im Laufe der Zeit schien diese „Überraschung“ in Vergessenheit geraten.
„Gott wohnt auch im Tiger; aber das ist kein Grund, den Tiger zu umarmen.“
(Ramakrishna Paramahamsa, bedeutender hinduistischer Mystiker, 1836 – 1886)
Seit Jahren schon treibt Maurice Obembe selbst so Einiges um, das für gewaltigen Wirbel sorgen könnte. Jetzt steht er kurz davor! Ist er endlich Papst, kann er die Dinge angehen.
‚Ach, was heißt Wirbel?’, denkt er, vor Vorfreude ganz außer sich, denn er zweifelt keinen Augenblick an einem, für ihn, positiven Wahlausgang. ‚Ein Erdbeben plus Tsunami wird es sein; und zwar von einem Ausmaß, wie man es noch bei keiner Religionsgemeinschaft jemals erlebt hat!’
Vorher wird er allerdings auf keinen Fall darüber sprechen. Und sobald er es tun wird, dann auch nur mit ganz wenigen Auserwählten, die er unbedingt zur Verwirklichung braucht und deren Loyalität er sich absolut sicher sein kann; denn seine Absichten kann man beim besten Willen nicht als „lauter“ bezeichnen …
Oh, nein! Seit langem schon brennt in seinem Herzen die heiße Flamme der Rachsucht und die schmerzliche Sehnsucht nach gnadenloser Vergeltung. Immer wieder hat er im Laufe seines Erwachsenenlebens die akribischen Aufzeichnungen eines Urahnen über das schreckliche Schicksal seiner Familie und seines Volkes und die nie gebüßte Schuld der Verursacher nachgelesen. Er kennt sie mittlerweile beinah auswendig. Und hin und wieder träumt er sogar davon; so auch in der vergangenen Nacht.
Der sechsjährige Junge, genannt Maurice, zitterte vor Angst und Schwäche. Im Juni des Jahres 1894 befand sich eine kleine Gruppe, bestehend aus einigen älteren Frauen und jungen Müttern mit ihren Kindern, etliche davon noch Säuglinge, sowie aus ein paar heranwachsenden Mädchen, schon seit zwei Tagen auf der Flucht durch das unwegsame, verbuschte Gelände, das sich unmittelbar an die Pflanzung des gefürchteten weißen Bwanas, nahe der Stadt Bagamojo am Fluss Ruwu Kirigani, im Osten Afrikas, anschloss.
Die Frauen waren übersät mit Abschürfungen und frischen blauen Flecken, die dem verwilderten Gelände, das sie durchquerten, geschuldet waren; dazu waren sie gezeichnet von Hinweisen auf länger zurückliegende Faust- und Peitschenhiebe, verabreicht als Strafe für angebliche „Faulheit“ oder weil sie versucht hatten, sich gegen die ausufernde sexuelle Gewalt der schwarzen Aufseher ihres weißen „Herrn“ zur Wehr zu setzen.
Der Bwana ließ den Kerlen das meiste ihrer Übergriffe ohne Sanktionen durchgehen, weil er sie brauchte und auf ihre Loyalität angewiesen war. Eine Situation, die die Aufseher weidlich ausnutzten. Auf diese Weise konnten sie sich den weiblichen Feld- und Haussklaven überlegen fühlen und vergessen, dass sie selbst auch bloß Dreck in den Augen des deutschen Plantagenbesitzers waren.
Ein ganz junges Mädchen, fast noch ein Kind, vermochte vor Schmerzen kaum mehr zu laufen; immer wieder lief ihm ein dünner Blutfaden zwischen den mageren Oberschenkeln herab. Ein betrunkener Besucher ihres „Besitzers“ aus Potsdam war in der Nacht vor der Flucht mit äußerster Brutalität gegen das noch unberührte Mädchen vorgegangen.
Der hässliche Vorfall reihte sich ein in eine ganze Serie dieser, inzwischen alltäglichen, Missbrauchsvergehen gegen schwarze Frauen. Kinder und jedes weibliche Wesen bis zu einem gewissen Alter hatten ständig damit zu rechnen, dass ein weißer „Herr“ sein „Recht“ einforderte, die „Sklavinnen“ und deren Nachwuchs, selbst kleine Jungen, missbrauchen zu dürfen.
Auf vielen Pflanzungen besaß dieses „Recht“ auch für die schwarzen Wächter stillschweigende Geltung, um sich ihrer Ergebenheit zu versichern.
Widersetzlichkeit der Rechtlosen wurde im Allgemeinen mit Prügeln geahndet. Wobei diese Art der Bestrafung nicht nur dem Herrn zustand, sondern auch seinen Söhnen oder Freunden, die zu Besuch weilten sowie den bereits erwähnten weißen und schwarzen Aufsehern.
Ältere Eingeborene und kleinere Kinder waren nicht selten von Unterernährung betroffen. Wer nicht mehr oder noch nicht die volle Arbeitsleistung auf einer Plantage erbrachte, hatte mitunter mit drastischer Reduzierung der zugeteilten Essensrationen zu rechnen; ganz nach dem Motto: „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen!“
* * *
Es war bereits später Nachmittag. Die letzte Mahlzeit, ihm und seinen kleineren Geschwistern von ihrer Mutter Elisa zugeteilt, hatte Maurice am vergangenen Abend zu sich genommen. Es hatte sich um fette schwarze Raupen einer großen blauschillernden Käferart gehandelt, die sie und die anderen Frauen im nahezu undurchdringlichen Gebüsch am