Der Pontifex. Karla Weigand

Der Pontifex - Karla Weigand


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      Nur Elisa vermochte unbeirrt mit sicherem Instinkt den richtigen Weg durch diese grüne, bereits dämmrig-dunkle, feuchtheiße Hölle zu erkennen. Ohne Zweifel war sie die beste und erfahrenste Fährtenleserin. Hier in der Gegend sollte es immerhin wilde Tiere geben neben den allgegenwärtigen giftigen Schlangen und Skorpionen …

      ‚Gut, dass mein Vater uns nicht mehr sehen kann’, überlegte Maurice nach einer Weile, während er den Schleim in seiner Nase hochzog. In der vergangenen Nacht im Freien hatte er sich einen Schnupfen geholt. Nach Sonnenuntergang konnte es nämlich empfindlich kalt werden.

      ‚Unsere stolze Familie, seit fast einem Jahrhundert Herrscher über die Wahehes, auf der Flucht vor den weißen Eroberern: Was für eine Schmach!’

      Bitterer Groll erfüllte den kleinen Jungen.

      * * *

      Den Aufenthalt in der Sixtinischen Kapelle scheint Kardinal Obembe außerordentlich zu genießen. Obwohl er die päpstliche Hauskapelle im Vatikan, erbaut von Papst Sixtus IV. von 1473 bis 1481, nicht zum ersten Mal besucht, ist er genau wie einst als junger Priester bezaubert von dem einmaligen Kunstgenuss.

      Ihn stört nicht, dass bereits sechzehn Wahlgänge abgehalten worden sind und in Kürze der siebzehnte Urnengang ansteht. Er könnte an diesem Ort gerne noch eine lange Zeit verweilen, nur um in aller Ruhe die grandiosen Fresken zu Themen des Alten und des Neuen Testamentes zu bewundern von so bedeutenden Künstlern wie Perugino, Pinturicchio, Botticelli, Ghirlandaio, Rosselli und Signorelli an den Längswänden sowie die Fresken Michelangelos:

      Schöpfungsgeschichte, Propheten, Sybillen et cetera an der gewölbten Decke und natürlich das Nonplusultra, das Jüngste Gericht an der Altarwand. Auch die imposante Architektur der weiträumigen Kapelle lässt er mit Genuss auf sich einwirken.

      ‚Meine Kapelle’, jubelt es in seinem Inneren und wieder wandert der entzückte Blick des Kardinals hinauf zu Michelangelos „Erschaffung des Adam“.

      Dass sowohl der Schöpfer der Welt wie sein Geschöpf, das er angeblich nach seinem eigenen Bild geschaffen hatte, der weißen Rasse angehören, belustigt ihn nur. Ist man sich doch seit längerem sicher, dass die Menschwerdung in Wahrheit in Afrika stattgefunden hat … Dem begnadeten Künstler nimmt er es nicht übel: Der konnte das damals, als er sein Werk schuf, nicht wissen.

      ‚Im Übrigen sollen sich die Weißen bloß nicht so überheben’, denkt er bei sich. ‚Einer vor zwei Jahrzehnten durchgeführten Studie zufolge sind die Nordeuropäer länger dunkelhäutig gewesen, als sie bis dahin für möglich gehalten haben – und als ihnen lieb ist.’

      Obembe hatte diese Studie sehr aufmerksam gelesen.

      Den Sachverhalt legte eine DNA-Analyse nahe, durchgeführt von Londoner Wissenschaftlern an Resten eines 10 000 Jahre alten männlichen Skeletts aus Großbritannien. Die Knochen waren bereits im Jahr 1903 im Südwesten Englands gefunden worden. DNA-Analysten des britischen Naturhistorischen Museums und des University College of London befassten sich allerdings erst 2018 damit und „seien überrascht gewesen, dass ein Bewohner der britischen Insel damals zwar blaue Augen, aber dazu richtig dunkle Haut haben konnte.“

      Zu Kardinal Obembes großer Freude fand man noch mehr he­raus: Der Stamm dieses Mannes war am Ende der letzten Eiszeit auf die Insel gezogen. Die Forscher konnten die DNA des Skeletts mit menschlichen Relikten aus Ungarn, Luxemburg und Überresten aus Spanien in Verbindung setzen.

      Vor zwanzig Jahren eine Nachricht, die nicht nur Maurice Obembe, sondern auch viele andere gebildete Afrikaner mit Genugtuung erfüllt hatte. In europäischen Ländern machte man hingegen keinerlei Aufhebens davon; es war leider bloß ein Fall für Anthropologen und Naturhistoriker geblieben.

      „Anscheinend passte die Entdeckung nicht ins ‚weiße’ Weltbild“, sagt sich der Kardinal mit einem zynischen Lächeln.

      Wie ein x-beliebiger Rom-Tourist hatte er sich am Flughafen den neuesten Führer der Sixtina gekauft. Den blättert er durch, während der nächste Wahlgang vorbereitet wird. Er weiß jetzt zum Beispiel, dass sie exakt über die gleichen Maße verfügt wie der im Alten Testament erwähnte Tempel König Salomons mit einer Länge von 40,23 m, einer Breite von 13,41 m und einer beeindruckenden Höhe von immerhin 20,70 m.

      Eigentlich eine Information, die die wenigsten, die das Büchlein durchblättern, interessieren wird. Aber für den Kardinal bedeutet sie schlichtweg alles: sieht er die Sixtina mittlerweile doch längst als „seine“ Kapelle an.

      „Ihr werdet euch freuen, die ihr jetzt eine kleine Zeit, wenn es sein soll, traurig seid in mancherlei Anfechtungen, auf dass euer Glaube bewährt und viel kostbarer befunden werde als vergängliches Gold.“

      (1. Petrusbrief, 1, 6–7)

      Innerlich frohlockend, aber äußerlich gelassen, sieht Maurice Obembe zwei Kardinäle auf sich zu kommen. Mit offenem Blick und freundlichem Lächeln kommt er ihnen, die mindestens fünfzehn bis zwanzig Jahre älter sind als er, ein paar Schritte entgegen. Einen von beiden, einen umgänglichen Spanier, kennt er ziemlich gut; der andere, ein etwas gebückt gehender Franzose, gilt allgemein als streng und verschlossen, ein Hardliner, wie er im Buche steht.

      Was die Herren von ihm wissen möchten, erfüllt den Geistlichen aus Ghanumbia mit stiller Genugtuung und lässt sein Herz insgeheim höherschlagen.

      „Verehrter Bruder in Christo, nur mal so zu unserer Information“, beginnt der französische Kirchenmann betont lässig, während der spanische sein farbiges Gegenüber wohlwollend mustert: „Einmal angenommen, die verehrte Wählergemeinde wäre des Patts zwischen den beiden asiatischen Kandidaten müde und zeigte sich bereit, ihre Gunst möglicherweise einem schwarzen Mitbruder zu gewähren: Wären Sie in diesem Falle bereit, die Wahl zum Heiligen Vater anzunehmen?“

      „Falls dem nicht so wäre, zögern Sie bitte nicht, uns das mitzuteilen, damit wir nicht noch mehr unnütze Zeit vergeuden!“, fügt der Spanier, ein hochgewachsener, sich betont aufrecht haltender Andalusier mit unleugbar maurischem Einschlag, mit einem gewinnenden Lächeln hinzu.

      Der Angesprochene verfügt über genügend schauspielerisches Talent und hat keine Mühe, sein Triumphgefühl zu verbergen. Ehrfurchtsvoll neigt er seinen glattrasierten Schädel vor den älteren Kardinälen.

      „Es wäre mir eine überaus große Ehre, von meinen hochverehrten Brüdern in Christo für würdig erachtet zu werden, Mutter Kirche als Oberhaupt der Gläubigen in Demut und größter Verantwortung zu dienen. Selbstverständlich würde ich mich in diesem Fall dem Votum des erlauchten Gremiums nicht verweigern!“

      Mit Erfolg bemüht Obembe sich, den zwei hohen Geistlichen nicht mit triumphierender Miene hinterherzuschauen, als sie sich zu den anderen Konklave-Teilnehmern zurückbegeben. Für ihn besteht in diesem Moment nicht mehr der geringste Zweifel: Er hat es geschafft! Natürlich weiß er auch, dass unangenehme Überraschungen nie ausgeschlossen sind; dennoch fühlt er sich so gut wie am Ziel.

      Im Laufe der Zeit haben sich die Wahlmodalitäten stark verändert. Anders als früher muss nicht mehr krampfhaft wochen- oder gar monatelang nach einem Kompromisskandidaten gesucht werden. Hat nach dreißig Wahlgängen immer noch kein Kandidat die notwendige Zweidrittelmehrheit erreicht, kann die absolute Mehrheit die Entscheidung bringen.

      ‚Und die wird dann auf alle Fälle mit meinem Namen verbunden sein!’ Freilich hofft er insgeheim, dass es etwas schneller gehen wird. Es würde sein Ansehen erhöhen …

      Nach längerer Zeit schweifen seine Gedanken ab zu seiner Geliebten Monique, die sicher schon ungeduldig auf sein Startzeichen wartet, den Flug nach Rom antreten zu können. Natürlich freut er sich auf ihr Kommen – obwohl er sich zu seiner eigenen Verblüffung eingestehen muss, sie bisher nicht allzu sehr vermisst zu haben.

      ‚Sollte ich mich ihr womöglich ein wenig entfremdet haben?’, fragt sich der Kardinal insgeheim. Allerdings verwirft er den Gedanken sofort als völlig absurd. Er mag viele Fehler haben – Untreue gehört definitiv nicht dazu. Seit er mit der schönen


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