FreiSinnig. Kristina Schröder
genug sein konnten. Ständig kamen neue Vorschriften durch Bund, Land oder Kommune hinzu, und fast nichts davon fiel weg, sodass das Infektionsschutzniveau irgendwann obsessive Züge trug. An der Grundschule unserer beiden großen Töchter etwa sitzen die Kinder an Einzeltischen und desinfizieren sich regelmäßig die Hände, der Austausch von Radiergummis oder Stiften ist untersagt, ihr Frühstücksbrot essen sie versetzt in zwei nach dem Schachbrettmuster aufgeteilten Gruppen. Ihren Tag verbringen sie in festen Kohorten, deren Durchmischung auf dem Pausenhof durch Absperrbänder verhindert wird. Eltern und Lehrer haben Geld für CO2-Ampeln und professionelle Luftreinigungsgeräte gesammelt, sie stehen in jedem Raum, dennoch werden die Vorgaben zum Lüften pedantisch eingehalten. Über viele Monate fand Distanz- oder Wechselunterricht statt, die Klassen waren also nicht voll besetzt. Seit Frühjahr 2021 testen sich die Schüler zweimal pro Woche vor Beginn des Unterrichts, zwischen Oktober 2020 und Juni 2021 mussten die Sechs- bis Zehnjährigen aber dennoch im Unterricht und in der Nachmittagsbetreuung Maske tragen, sieben bis neun Stunden am Stück mit nur wenigen Unterbrechungen.
Seit Beginn der Pandemie gab es nur eine Handvoll Fälle und trotz umfangreichen Testens keine einzige nachgewiesene Ansteckung innerhalb der Schule. Aber das Damoklesschwert Quarantäne war und ist immer präsent. Zu einem Zeitpunkt, als die sog. britische Mutante bereits 90 Prozent der Fälle in Deutschland ausmachte, teilte das Wiesbadener Gesundheitsamt Schulen und Eltern mit, dass im Fall des Nachweises dieser Alpha-Variante ab sofort verschärfte Quarantäne-Regeln gälten: Sollte die Schule nicht garantieren können, dass die Grundschulkinder auch auf dem Pausenhof und beim nachmittäglichen Spielen permanent den erforderlichen Abstand eingehalten haben, müssten alle Kontaktpersonen des Indexfalles für 14 Tage in Quarantäne – und deren kompletten Haushalte gleich dazu. Ein einziger Fall in einer Klasse konnte also schnell für rund 100 Personen zwei Wochen Freiheitsentzug bedeuten, ohne Möglichkeit einer Freitestung.
Ist das vernünftig? Während sich einerseits auch während der gesamten Pandemie Pendler und Schüler in Bussen und Bahnen zu Stoßzeiten drängten, 200 Menschen in einem Flugzeug auch immer möglich waren und es eine wirklich konsequente Test- oder Maskenpflicht in Büros nie gab, haben wir andererseits bei manchen erkennbar geringen Risiken eine bittere Konsequenz entwickelt, koste es, was es wolle. Und so mussten Menschen alleine sterben, wurden demente Menschen wochenlang ohne Kontakt mit ihren Angehörigen alleingelassen und mussten Frauen unter Wehen Maske tragen – all dies auch noch zu einem Zeitpunkt, als wir mit Tests ein deutlich milderes Mittel zur Hand hatten, das Risiko hier entscheidend zu senken. Wir haben Kinder von Schlittenhängen, Familien von ihren Picknickdecken und Jugendliche aus Skateparks vertrieben, teilweise mit Hubschraubern und berittener Polizei, obwohl immer sehr klar war, dass das Risiko einer Infektion im Freien verschwindend gering ist. Alles im Namen eines Gesundheitsschutzes, der, selektiv zwar, aber dann ungeheuer konsequent, auch noch das kleinste Risiko vermeiden wollte.
Müssen wir nicht auch das kleinste Risiko vermeiden? Ich sage: Nein. Denn in diesem zunächst so human klingenden Gebot der absoluten Risikovermeidung liegt eine furchtbare Unbarmherzigkeit. Beim Versuch, auch noch dem minimalen Restrisiko aus dem Weg zu gehen, steigt der damit verbundene anderweitig angerichtete Schaden fast immer extrem an. Wirklich verantwortungsvoll ist daher eine Haltung, die die Eintrittswahrscheinlichkeit beachtet, abwägt und bereit ist, auch ein Risiko zu tragen. Ein Risiko, das verhältnismäßig sein muss, aber auch verhältnismäßig sein darf.
Und bestimmte Maßnahmen sollten wieder prinzipiell tabu sein, wie sie es vor dem Frühling 2020 aus guten Gründen waren. Sie mögen der Pandemiebekämpfung kurzfristig und situativ dienen, aber sie widersprechen grundsätzlich unseren Werten, zerreißen unsere Gesellschaft oder verletzen unsere Humanität. Menschen in Krankenhäusern oder Pflegeeinrichtungen wochenlang zu isolieren oder sie sogar alleine sterben zu lassen, gehört zu diesen Maßnahmen, die ich meine. Grundrechte mit dem Ziel einer totalen Bekämpfung der Pandemie derart drastisch einzuschränken, dass es „womöglich zu diesem Zeitpunkt nicht verhältnismäßig gegenüber den Bürgern“ ist, wie es der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann im Juni 2021 forderte und es dem Grundgedanken der bei den Grünen stark verankerten No-Covid-Bewegung entspricht, ebenfalls. Und das monatelange Schließen von Schulen nach meiner festen Überzeugung eben auch. Zumindest dann, wenn es in erster Linie gar nicht dem Schutz der Schüler dient, sondern die Kinder und Jugendlichen im Sinne Immanuel Kants zu einem Mittel für die Zwecke anderer Menschen gemacht werden. Wäre die westliche Welt im Frühling 2020 zu der Auffassung gelangt, dass der Einsatz eines solch drastischen und folgenschweren Instruments für uns aus prinzipiellen Erwägungen ausgeschlossen ist, wäre dies in Gesellschaft, Politik und Wissenschaft breit akzeptiert worden, davon bin ich überzeugt. „How dare you?“ hätten wir uns alle gegenseitig fragen müssen. Das ist nicht geschehen, mit allen bekannten und manchen noch unbekannten Folgen. Aber eine Gesellschaft kann sich auch ein Tabu zurückerobern.
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