Elbkiller: 7 Hamburg Krimis. Alfred Bekker
Holler lächelte flüchtig. „Markus wohnt schon längere Zeit nicht mehr bei uns. Er hat eine Eigentumswohnung in Eimsbüttel.“
„Nach unseren Unterlagen ist er aber hier gemeldet.“
Holler hob die Schultern. „Dann hat er die Ummeldung wohl vergessen.“
Er zog eine Schublade auf. „Ich verfüge über einen Schlüssel, den können Sie vorerst haben.“
Brock biss sich auf die Lippen. Es gab doch immer wieder Überraschungen. Sie mussten sich schnellstens die Wohnung ansehen!
„Im letzten Jahr war Ihr Sohn in einen Unfall auf der Elbe verwickelt. Können Sie mir dazu Näheres sagen?“
Anton Holler sank stärker in sich zusammen. „Das war eine furchtbare Tragödie. Der Unfall hat Markus sehr mitgenommen. Er hatte sich bis heute nicht richtig davon erholt. Man passt einen kurzen Moment nicht auf, und dann verändert dieser Moment dein Leben. Er musste seinen Bootsführerschein abgeben und hat die Yacht anschließend verkauft.“
„Es ist nie zu einem Prozess gekommen, oder?“
„Nein, wir haben uns mit der Familie außergerichtlich geeinigt. Sie erhielten eine ziemlich hohe Abfindung. Ich hatte den Eindruck, dass sie nicht unglücklich darüber waren, dass sie diesen Frank Altmann los waren. Soweit ich weiß, war er eine große Belastung für seine Familie.“
Das Rachemotiv wird immer dünner, dachte Brock, schrieb die neue Adresse von Markus Holler in sein Notizbuch und erhob sich. „Mit wem im Haus kann ich denn noch reden?“
„Meine Frau ist wahrscheinlich in der Küche, und Daniel … Der wird in seinem Zimmer im Obergeschoss sein. Tim wollte nicht hierbleiben, sondern ist wie üblich zur Arbeit gegangen.“
„Wo kann ich ihn finden?“
„Wir haben schon lange einen älteren Lagerschuppen drüben in Steinwerder. Tim ist dort sozusagen der Chef. Unser Kontor ist allerdings am Fischmarkt.“
Kontor?, dachte Brock. Eine hanseatische Traditionsfirma pflegt eben auch die alten Begriffe.
„Das Ehepaar mit dem kleinen Sohn – sie leben wohl auch nicht hier, oder?“
Holler schüttelte den Kopf. „Sie meinen meine Tochter Maria. Sie ist mit Kurt Berghoff verheiratet, einem Anwalt. Sie wohnen in Nienstedten. Warten Sie, ich muss hier irgendwo eine Visitenkarte haben.“
Er ging zum Schreibtisch und kramte darauf herum, bis er die gesuchte Karte fand und sie Brock in die Hand drückte. „Hier ist die Adresse.“
Brock verabschiedete sich und ließ den Patriarchen allein mit seiner Trauer. Hollers Frau Elisabeth fand er tatsächlich in der Küche. Sie saß an einem großen Holztisch, der mit allerlei Lebensmitteln beladen war. Als Brock eintrat, hob sie den Kopf und sah ihn mit tränennassen Augen an.
„Wie konnte das nur geschehen?“, flüsterte sie.
„Ich möchte Ihnen mein Mitgefühl ausdrücken“, sagte Brock. „Leider muss ich Ihnen ein paar Fragen stellen. Das lässt sich in solchen Fällen nicht vermeiden.“
Elisabeth Holler wischte sich über die Augen. „Fragen Sie!“
„Ist Ihnen an Markus in letzter Zeit etwas Ungewöhnliches aufgefallen? War er anders als sonst?“
„Markus hatte sein eigenes Leben. Wir wussten nicht viel über sein Privatleben. Mit meinem Mann unterhielt er sich nur über das Geschäft. Ich weiß noch nicht mal, ob er eine feste Freundin hatte. Als er noch bei uns wohnte, hat er uns an seinem Leben kaum teilhaben lassen. Ich habe es irgendwann aufgegeben, ihn zu fragen. Alle paar Wochen kam er zu unserem Sonntagsessen, aber auch bei diesen Gelegenheiten hat er nicht viel über sich erzählt.“
„Dann werden wir wohl etwas mehr über ihn herausfinden müssen. Danke für Ihre Zeit.“
Cornelius Brock stieg die Treppe in das Obergeschoss hoch und wurde schon bald von einer merkwürdigen Geräuschkulisse empfangen: Schüsse, Schreie, Explosionen.
Er blieb kurz vor der Tür stehen, auf der ein handgeschriebenes Schild verkündete: Eintritt nur nach Aufforderung!
Brock fühlte sich aufgefordert und stieß die Tür auf.
Daniel Holler fuhr erschrocken herum und starrte ihn an. Er saß vor einem Tisch, auf dem drei Monitore nebeneinander aufgereiht waren. Unter dem Tisch standen zwei große Computergehäuse. Außerdem gab es Stapel von Spielen, Tastaturen, einen aufgeklappten Laptop und jede Menge Spielezubehör.
„Drück mal die Pausentaste“, sagte Brock.
Daniel gehorchte, und der Lärm war schlagartig vorbei.
„Was wollen Sie?“ Seine Stimme klang schrill und aggressiv.
„Wann hast du deinen Bruder zuletzt gesehen?“
„Weiß ich nicht. Ist schon länger her.“
„Du arbeitest doch gelegentlich in der Firma, oder?“
Der junge Mann fühlte sich eindeutig gestört. „Ja, aber im Lager. Markus war meistens im Kontor.“
„Weißt du, was dein Bruder privat gemacht hat?“
Daniel schüttelte den Kopf. „Ich habe ihn nicht danach gefragt. Wir haben nicht viel miteinander gesprochen.“
Der junge Mann schien merklich angespannt und nervös zu sein. Es war nicht die Zeit, ihn weiter zu bedrängen.
Brock ließ seinen Blick durch den Raum mit den heruntergelassenen Jalousien schweifen. „Dann spiel’ mal weiter.“
Viel hatte dieser Besuch nicht ergeben.
Bis auf den Dolch natürlich. Und den musste er sofort in die Gerichtsmedizin bringen. Dort gab es ein leistungsfähiges Labor, das auch mit der Analyse von DNA-Spuren umgehen konnte.
4. Kapitel
„Wie viel ist insgesamt verschwunden?“, fragte der Mann mit der Schirmmütze. Seine Worte hallten in der großen Lagerhalle nach, in der sich zurzeit nur wenige Kistenstapel befanden. Das Licht, das durch die schmutzigen Oberlichter fiel, zeichnete filigrane Muster auf den staubigen Boden.
Der jüngere Mann zögerte einen Moment. „Fünfzig Kilo“, sagte er schließlich leise und senkte den Blick. Eigentlich war der Mann noch ein Junge, nicht älter als achtzehn oder neunzehn Jahre. Seine Augen blickten irgendwie traurig. Auf seiner Oberlippe war der zarte Flaum eines Bartes zu sehen. Er war dankbar für den Job, den er hier bekommen hatte. Fiete war sein großes Vorbild, was schlicht daran lag, dass er noch nicht viel Erfahrung in der Beurteilung eines Menschen hatte. Doch Fiete hatte ihn von der Straße geholt, und dafür war er ihm dankbar.
Der Ältere nahm die Schirmmütze ab und strich sich mit der Hand über den kahlrasierten und wie poliert aussehenden Schädel. Hoch über dem linken Auge war jetzt eine gezackte Narbe zu sehen. Er trug Arbeitskleidung und unförmige Schuhe. Sein Alter mochte irgendwo zwischen vierzig und fünfzig liegen. Alle riefen ihn nur Fiete, obwohl keiner wusste warum. Fiete ist die norddeutsche Kurzform für Friedrich, doch das war nicht sein richtiger Name.
„Das ist die Hälfte der Lieferung“, stellte er fest.
Der jüngere Mann nickte und wirkte dabei sehr unglücklich.
„Und wo ist die fehlende Hälfte?“, kam es drohend.
Jetzt schwitzte der junge Mann. „Das weiß ich nicht.“
„Das weißt du also nicht“, wiederholte der Ältere. „Wie können denn fünfzig Kilo so einfach verschwinden?“
„Ich habe keine Erklärung.“
„Ich sage dir mal was. Fünfzig Kilo – das sind fünfzig einzelne Pakete in zwei großen Sporttaschen.