Die Russische Revolution 1917. Группа авторов

Die Russische Revolution 1917 - Группа авторов


Скачать книгу
Gribi.

      Jenseits der standardisierten Massenware mit vermeintlich beliebiger Motivik und aussagearmen formelhaften Kurzmitteilungen offenbart sich in diesem kleinen Kommunikationsmedium eine durchaus wichtige historische Quelle, die bei kritischer Betrachtung vielerlei Aufschlüsse zu geben vermag – nicht zuletzt über Lebenswelten. Die Bildseite dokumentiert die Ansichten des Fotografen, des Künstlers oder Auftraggebers, gleichzeitig lässt sie Rückschlüsse auf den Geschmack und die Absichten, eventuell auch Wahrnehmungen des Senders oder der Senderin zu. Zusätzliche Auskünfte geben die Textbotschaften, die hier aber nicht berücksichtig werden konnten.

      Die für dieses Buch verwendeten Ansichtskarten wurden in erster Linie aufgrund ihrer Motivik ausgewählt. In manchen Fällen können sie als einmalige Dokumentation verschwundener Lebenswelten gelten. So kommen in ihnen Straßenansichten, Berufsgattungen, Gegenstände, Kleidungen, gesellschaftliche Normen, Rituale, Armut, Selbst- und Feindbilder zum Vorschein, die über andere historische Quellen nur ansatzweise oder gar nicht mehr rekonstruierbar sind. Die Bildwelten, die auf den gemalten wie auch den fotografierten Karten zu erkennen sind, verweisen stets auch auf die Sinnwelten ihrer Schöpfer. Diese hatten eine nicht zu unterschätzende Definitions- und Deutungsmacht: Sie wählten ihre Sujets aus, inszenierten aufwendig spontan wirkende Straßenaufnahmen, sie retuschierten, montierten und kolorierten. Besonders deutlich wird dies bei den „Typenbildern“. [<<25]

      Der Adel war ebenfalls, wie alle anderen sozialen Gruppen, keine geschlossene Einheit. Sehr viele Kleinadlige waren verarmt und lebten dürftig wie die Bauern oder auf Kosten von reichen Verwandten, soweit es ihnen nicht gelungen war, im Staatsdienst oder in der Wirtschaft eine auskömmliche Stellung zu finden. Manche ehemaligen Grundbesitzer nutzten nach der Agrarreform von 1861 die neuen Möglichkeiten, ihr Land und die ihnen zustehenden Verpflichtungen ablösen zu lassen, und wandten sich [<<26] der Geldwirtschaft und dem Kapitalismus zu. Ein Teil von ihnen wurde zu wohlhabenden Unternehmern, vertrat liberale Anschauungen und arbeitete in den zemstva mit.

      Nur wenige adlige Großgrundbesitzer investierten ihre Gewinne in die Industrie. Damit verschärften sie eines der Strukturprobleme der russischen Industrialisierung: den Mangel an Kapital. Eigentlich war genügend Vermögen in Russland vorhanden, das als Kapital hätte verwendet werden können, aber es konnte nicht mobilisiert werden. Freiwillig gaben es jene Adligen nicht. Und an eine progressive Einkommenssteuer, die den Reichen Geld für die Gemeinschaftsaufgaben genommen hätte, traute sich die Staatsspitze nicht heran. Trotz ihrer angesichts der Industrialisierung schwindenden wirtschaftlichen Bedeutung übten namentlich die Agrarier nach wie vor politisch einen hohen Einfluss aus. Zar Nikolaj II. umgab sich mit adligen Ratgebern. Gegenüber „bürgerlichen“ Fachkräften blieb er misstrauisch, auch wenn er [<<27] sich häufig Anforderungen der Industrie beugen musste, um Russlands Großmachtposition nicht zu gefährden.

      Abb 12 Freizeitvergnügen am zarischen Hof in Carskoe Selo. Fotograf: Karl E. von Hahn, 1902. Hahn hatte ein Fotostudio in Carskoe Selo, war einer der beliebtesten Hoffotografen und unterwies die gesamte Zarenfamilie im Fotografieren. [Bildnachweis]

      Der zarische Hof in der Hauptstadt St. Petersburg oder in der zweiten Metropole Moskau lebte in einer Welt, die nichts gemein hatte mit der Welt der Bauern und Arbeiter und sich auch wenig um deren Nöte kümmerte. Der Zar stand gemäß der zeitgenössischen Begrifflichkeit dem „Volk“ gegenüber. Dazwischen bewegte sich die „Gesellschaft“, das waren die Besitzenden und Gebildeten. Diese Großgruppen waren gewiss nicht einheitlich, sondern in sich zergliedert und in ihren Anschauungen gespalten. Und doch lässt sich an den Gegensätzen und Verbindungslinien zwischen ihnen deutlich machen, wie das zaristische System zusammengehalten wurde und wie es schließlich auseinanderbrach.

      Dazu müssen auch die Probleme der über einhundert Nationalitäten und ethnischen Gruppen im Vielvölkerreich Russland berücksichtigt werden. Wiederum stoßen wir auf die strukturelle Vielschichtigkeit des Landes. Hier seien nur wenige Beispiele [<<28] genannt. Nicht zuletzt aufgrund der Konflikte mit der Zarenherrschaft hatte sich in den Regionen Polens, die durch die Teilungen des früheren Reiches zwischen 1772 und 1815 nach Russland eingegliedert worden waren, ein starkes Nationalbewusstsein ausgeprägt. Nach dem Scheitern der Aufstände von 1830 und 1863 konzentrierte sich die Nationalbewegung darauf, die Wirtschaftskraft des Landes zu erhöhen und die Bildung zu verbessern, um auf diese Weise ihre Position gegenüber der zarischen Regierung zu stärken. Ihr Bemühen um eine größere Geschlossenheit der eigenen Reihen führte allmählich zu einer Ausgrenzung der nichtethnischen und nichtkatholischen Polen, etwa der Juden.

      In der Ukraine


Скачать книгу