Die Russische Revolution 1917. Группа авторов
Gribi.
Jenseits der standardisierten Massenware mit vermeintlich beliebiger Motivik und aussagearmen formelhaften Kurzmitteilungen offenbart sich in diesem kleinen Kommunikationsmedium eine durchaus wichtige historische Quelle, die bei kritischer Betrachtung vielerlei Aufschlüsse zu geben vermag – nicht zuletzt über Lebenswelten. Die Bildseite dokumentiert die Ansichten des Fotografen, des Künstlers oder Auftraggebers, gleichzeitig lässt sie Rückschlüsse auf den Geschmack und die Absichten, eventuell auch Wahrnehmungen des Senders oder der Senderin zu. Zusätzliche Auskünfte geben die Textbotschaften, die hier aber nicht berücksichtig werden konnten.
Die für dieses Buch verwendeten Ansichtskarten wurden in erster Linie aufgrund ihrer Motivik ausgewählt. In manchen Fällen können sie als einmalige Dokumentation verschwundener Lebenswelten gelten. So kommen in ihnen Straßenansichten, Berufsgattungen, Gegenstände, Kleidungen, gesellschaftliche Normen, Rituale, Armut, Selbst- und Feindbilder zum Vorschein, die über andere historische Quellen nur ansatzweise oder gar nicht mehr rekonstruierbar sind. Die Bildwelten, die auf den gemalten wie auch den fotografierten Karten zu erkennen sind, verweisen stets auch auf die Sinnwelten ihrer Schöpfer. Diese hatten eine nicht zu unterschätzende Definitions- und Deutungsmacht: Sie wählten ihre Sujets aus, inszenierten aufwendig spontan wirkende Straßenaufnahmen, sie retuschierten, montierten und kolorierten. Besonders deutlich wird dies bei den „Typenbildern“. [<<25]
Überlieferte Bräuche, Gewohnheiten und Einstellungen trafen sich mit neuen Einflüssen aus den Städten und Industriezentren. Als sich aber die traditionellen Werte aufzulösen begannen, ging dies mit Orientierungslosigkeit und Unruhe einher. So berichteten zeitgenössische Beobachter nach der Jahrhundertwende zunehmend über gewalttätiges chuliganstvo von Jugendlichen in den Dörfern, über Hooliganismus und Rowdytum. Dies verband sich mit anderen Gewaltformen im Dorf, die vielfach ein Erbe des Leibeigenschaftssystems waren. Bauern hatten sich oft nur mit Gewalt gegen Übergriffe der Adligen wehren können. Nun waren sie vielfach enttäuscht, dass das politische System nicht stärker auf ihre Wünsche und Bedürfnisse einging. Ihre [<<23] Eigentumsvorstellungen sahen sie häufig am besten durch Selbstjustiz geschützt, die etwa bei Pferdediebstählen schnell in Lynchjustiz übergehen konnte. Gewalttätigkeit, auch gegen den Nachbarn, die eigene Frau oder das eigene Kind, war durch jahrhundertelange Prägungen zur Gewohnheit geworden, nicht zuletzt schließlich Folge von Trinkorgien an Kirchen- und Erntefesten. „Ja, es war schrecklich, mit ihnen zu leben, aber sie waren doch Menschen, sie litten und weinten wie Menschen, und in ihrem Leben gab es nichts, wofür man keine Rechtfertigung oder Entschuldigung gefunden hätte. Da war ihre schwere Arbeit, von der ihnen in der Nacht der ganze Körper weh tat, die grausamen Winter, die dürftigen Ernten, die Enge. Und keine Hilfe“, heißt es in Čechovs Erzählung „Die Bauern“ von 1897.4
Neben der Gewalt gab es jedoch auch Fürsorge und Organisationskraft, Frömmigkeit und Gemeinschaftsbewusstsein, Ehrbegriffe und Gerechtigkeitssinn, Liebe und Zärtlichkeit. Lev N. Tolstoj etwa schilderte dies in seinen Werken. 1902 veröffentlichte er die Lebensgeschichte einer Bäuerin. Von den Eltern mit einem ungeliebten Mann verheiratet, fasst die Frau mit der Zeit doch eine Zuneigung zu ihm und folgt ihm sogar, als er nach einem Kuhdiebstahl zur Verbannung verurteilt wird, nach Sibirien.5 Viele Bauern wurden nach wie vor von nichtkapitalistischen Vorstellungen geprägt. Dies zeigt sich etwa in Forderungen, die 1906 an das russische Parlament gestellt wurden: Der Staat möge so viel Land zuteilen, dass es unter Berücksichtigung der regionalen Gegebenheiten „für die Deckung durchschnittlicher Bedürfnisse an Versorgung, Wohnung, Kleidung sowie für die Zahlung der Abgaben ausreicht“.6
Der Adel war ebenfalls, wie alle anderen sozialen Gruppen, keine geschlossene Einheit. Sehr viele Kleinadlige waren verarmt und lebten dürftig wie die Bauern oder auf Kosten von reichen Verwandten, soweit es ihnen nicht gelungen war, im Staatsdienst oder in der Wirtschaft eine auskömmliche Stellung zu finden. Manche ehemaligen Grundbesitzer nutzten nach der Agrarreform von 1861 die neuen Möglichkeiten, ihr Land und die ihnen zustehenden Verpflichtungen ablösen zu lassen, und wandten sich [<<26] der Geldwirtschaft und dem Kapitalismus zu. Ein Teil von ihnen wurde zu wohlhabenden Unternehmern, vertrat liberale Anschauungen und arbeitete in den zemstva mit.
Andere waren bestrebt, ihre Gutswirtschaft nach kapitalistischen Prinzipien zu führen. Einige sahen sich dabei als „reumütige“ Idealisten, die die Schäden der Leibeigenschaft an den Bauern wiedergutmachen wollten. Tolstoj ließ schon 1856, also noch vor der Agrarreform von 1861, einen solchen Gutsbesitzer seine Ziele darlegen: „Auf diese einfache, empfängliche, unverdorbene Volksklasse einwirken, sie von der Armut befreien, ihnen Wohlstand geben und Bildung vermitteln, die ich glücklicherweise besitze, sie von ihren Fehlern und Schwächen zu heilen, deren Wurzel Unwissenheit und Aberglaube sind, die Sittlichkeit entwickeln, sie das Gute lieben lehren … Welch eine glänzende, glückliche Zukunft!“7 Die Bauern verweigerten sich allerdings einer derartigen „Zivilisierung“.
Eine Reihe der Großgrundbesitzer, namentlich in den fruchtbaren Gegenden Südrusslands, war Nutznießer der „Bauernbefreiung“. Sie vergrößerten auf Kosten der Bauern wie der Kleinadligen ihren Landbesitz, verpflichteten sich die Bauern durch Regulierungsverträge oder Anstellungen als Landarbeiter und produzierten Getreide sowie sonstige Erzeugnisse für die Städte und den Export in das Ausland. In der Regel blieben sie in ihren traditionellen Denk- und Verhaltensweisen verhaftet und pflegten einen aufwendigen Lebensstil. In vielen literarischen Arbeiten wird der Landadlige als jemand geschildert, der „nie etwas tat“ und seine Tage in „glückseligem Müßiggang“ verbrachte.8
Nur wenige adlige Großgrundbesitzer investierten ihre Gewinne in die Industrie. Damit verschärften sie eines der Strukturprobleme der russischen Industrialisierung: den Mangel an Kapital. Eigentlich war genügend Vermögen in Russland vorhanden, das als Kapital hätte verwendet werden können, aber es konnte nicht mobilisiert werden. Freiwillig gaben es jene Adligen nicht. Und an eine progressive Einkommenssteuer, die den Reichen Geld für die Gemeinschaftsaufgaben genommen hätte, traute sich die Staatsspitze nicht heran. Trotz ihrer angesichts der Industrialisierung schwindenden wirtschaftlichen Bedeutung übten namentlich die Agrarier nach wie vor politisch einen hohen Einfluss aus. Zar Nikolaj II. umgab sich mit adligen Ratgebern. Gegenüber „bürgerlichen“ Fachkräften blieb er misstrauisch, auch wenn er [<<27] sich häufig Anforderungen der Industrie beugen musste, um Russlands Großmachtposition nicht zu gefährden.
Abb 12 Freizeitvergnügen am zarischen Hof in Carskoe Selo. Fotograf: Karl E. von Hahn, 1902. Hahn hatte ein Fotostudio in Carskoe Selo, war einer der beliebtesten Hoffotografen und unterwies die gesamte Zarenfamilie im Fotografieren. [Bildnachweis]
Der zarische Hof in der Hauptstadt St. Petersburg oder in der zweiten Metropole Moskau lebte in einer Welt, die nichts gemein hatte mit der Welt der Bauern und Arbeiter und sich auch wenig um deren Nöte kümmerte. Der Zar stand gemäß der zeitgenössischen Begrifflichkeit dem „Volk“ gegenüber. Dazwischen bewegte sich die „Gesellschaft“, das waren die Besitzenden und Gebildeten. Diese Großgruppen waren gewiss nicht einheitlich, sondern in sich zergliedert und in ihren Anschauungen gespalten. Und doch lässt sich an den Gegensätzen und Verbindungslinien zwischen ihnen deutlich machen, wie das zaristische System zusammengehalten wurde und wie es schließlich auseinanderbrach.
Dazu müssen auch die Probleme der über einhundert Nationalitäten und ethnischen Gruppen im Vielvölkerreich Russland berücksichtigt werden. Wiederum stoßen wir auf die strukturelle Vielschichtigkeit des Landes. Hier seien nur wenige Beispiele [<<28] genannt. Nicht zuletzt aufgrund der Konflikte mit der Zarenherrschaft hatte sich in den Regionen Polens, die durch die Teilungen des früheren Reiches zwischen 1772 und 1815 nach Russland eingegliedert worden waren, ein starkes Nationalbewusstsein ausgeprägt. Nach dem Scheitern der Aufstände von 1830 und 1863 konzentrierte sich die Nationalbewegung darauf, die Wirtschaftskraft des Landes zu erhöhen und die Bildung zu verbessern, um auf diese Weise ihre Position gegenüber der zarischen Regierung zu stärken. Ihr Bemühen um eine größere Geschlossenheit der eigenen Reihen führte allmählich zu einer Ausgrenzung der nichtethnischen und nichtkatholischen Polen, etwa der Juden.
In der Ukraine