Die Russische Revolution 1917. Группа авторов

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Adel und der Geistlichkeit stammten – auf die Tradition der freien Kosaken-„Republiken“, der Hetmanate. Allerdings trafen sie nur auf schwache Resonanz in der mehrheitlich aus Bauern bestehenden ukrainischen Bevölkerung. Für sie war die Lösung sozialer und wirtschaftlicher Probleme dringender. Aus den sozialen Gegensätzen zwischen ukrainischen Bauern, polnischen und russischen Gutsbesitzern, jüdischen Händlern, russischen Beamten und Unternehmern sowie russischen Arbeitern lassen sich unmittelbar weder ethnische noch konfessionelle Konflikte ableiten. Neben dem Judentum hatte der Katholizismus der Polen Platz, während Russen wie Ukrainer der orthodoxen Kirche angehörten. Unter den Ukrainern fand zudem insgeheim immer noch die von der zarischen Regierung verbotene Unierte Kirche Anhänger, die im Ritus den Orthodoxen, im Glauben jedoch den Katholiken folgte. Erst allmählich – nicht zuletzt aufgrund der wachsenden Unterdrückung seitens der zaristischen Behörden – konnten die Träger der nationalen Idee Fuß fassen, wenngleich bis zum Ersten Weltkrieg keine Massenbewegung entstand. Die unterschiedlichen Rahmenbedingungen ließen es – trotz vielfältiger Verflechtungen – auch nicht zu, mit ihren Gesinnungsfreunden unter den Ukrainern Österreichisch-Galiziens eine einheitliche Bewegung zu bilden.

      Eine andere Form zeigte sich bei den Bergvölkern des Kaukasus, die immer wieder bewaffnet gegen die Russen Widerstand leisteten und sich dabei auf ihre alten Freiheiten und ihre Vergangenheit beriefen.

      Noch kaum berührt von einer Nationalidee waren die zahlreichen Nomadenstämme im asiatischen Teil Russlands. Bei anderen Ethnien begann sich eine nationale Identität tastend herauszubilden. In den muslimischen Regionen entfalteten sich Reformbewegungen, die einen grenzüberschreitenden Austausch mit muslimischen Zentren außerhalb des Imperiums und entsprechende Netzwerke befürworteten.

      Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts strebte die zarische Politik – anders als zuvor – danach, als Antwort auf soziale Konflikte und sich ausbreitende National [<<29] bewegungen die unterschiedlichen politischen Strukturen in den verschiedenen Gebieten zu vereinheitlichen, eine Russifizierung voranzutreiben und einen großrussischen Nationalismus zu fördern. Autonomierechte wurden aufgehoben, die zaristische Bürokratie griff vermehrt in regionale Verwaltungsstrukturen ein, in den Schulen wurde der Russischunterricht verstärkt, Nichtorthodoxe sahen sich in ihrer Religionsausübung zunehmend behindert. Über die Industrialisierung und den Bau eines umfangreichen Schienennetzes, insbesondere der Transsibirischen Eisenbahn, erfolgte eine mit wirtschaftlicher Ausbeutung verbundene Kolonisierung bisher kaum kontrollierter Räume im Osten des Reiches. Als sich dort dann russische Siedler niederließen, um die Gegenden zu erschließen und zugleich eine „zivilisatorische Mission“ zu erfüllen, kam es vor allem in Zentralasien in wachsendem Maße zu Zusammenstößen mit den Nomaden, die ihr Land behalten und ihre traditionelle Kultur bewahren wollten.

      Ein einheitliches Nationalbewusstsein im zarischen Imperium konnte auf diese Weise nicht geschaffen werden. Im Gegenteil verstärkten sich die Spannungen, die leicht in offene Auseinandersetzungen umschlagen konnten. Der Zar und die Autokratie, die formal unumschränkte Selbstherrschaft, bildeten das einzige Band, das das Land zusammenhielt. Bei den Völkern mit einer starken Nationalbewegung, die sich von Russland lösen wollten, hatte es sich bereits gelockert, ebenso bei den sozial benachteiligten Gruppen. Unter den ethnischen Russen unterstützte die Führung der orthodoxen Kirche die Autokratie, mit der sie eng verbunden war. Um die widerstreitenden Kräfte innerhalb der konservativen Kreise zusammenzuhalten und zugleich das „Volk“ wieder enger an den Zaren zu binden, förderten Mitglieder der Staatsspitze den Antisemitismus als Integrationsideologie. „Der Jude“ galt als Gegner, weil er alles in ihren Augen Negative der „Moderne“ – ganz gleich, ob Kapitalismus, Liberalismus oder Sozialismus – nach Russland gebracht habe.

      Juden in größerer Anzahl lebten im Russischen Reich erst seit der Annexion von Gebieten im Westen, insbesondere seit den Teilungen Polens. Kleinere Gruppen wohnten im Kaukasus – die „Bergjuden“ – und in Zentralasien. Seit Ende des 18. Jahrhunderts bis in den Ersten Weltkrieg hinein durften die Juden in Westrussland, von einigen Ausnahmen abgesehen, ihren „Ansiedlungsrayon“ – einen breiten Streifen von Litauen bis zum Schwarzen Meer – nicht verlassen. Während des 19. Jahrhunderts wurden sie mehr und mehr diskriminiert. Auf diese Weise wollte der Staat sie von ihrer traditionellen Kultur abbringen, „zivilisieren“ und dann „integrieren“. Nur während der Reformzeit unter Zar Alexander II. schien sich eine Wende zum Besseren anzubahnen. Nach seiner Ermordung 1881 zerschlugen sich jedoch alle Hoffnungen. Vielerorts wurden russische Bauern und Kleinbürger mit der Behauptung, Juden stünden hinter dem Terroranschlag, zu gewalttätigen Ausschreitungen – Pogromen – aufgehetzt. [<<30] Dieses Muster wiederholte sich immer wieder in den folgenden Jahrzehnten, verstärkt durch die in konservativen Kreisen propagierte Judengegnerschaft.

      Eine Reaktion darauf ist auch in Russlands Beitrag zum Völkerrecht zu sehen: Die Landkriegsordnung und die Einrichtung einer Schiedsgerichtsbarkeit, die 1899 in der Friedenskonferenz von Den Haag verabschiedet wurden, gingen nicht zuletzt auf russische Initiative zurück. Die Konzeptionen hatte der liberale Jurist Fedor F. Martens entworfen. Sie stellten einen bedeutenden Versuch dar, ein neues globales System zur Verhinderung von Kriegen und zumindest zur „Humanisierung“ der Kriegsführung zu schaffen. Eine entschiedene Abrüstung oder eine grundlegende Abwendung von einem durch militärische Stärke geprägten Denken blieben allerdings nach wie vor in weiter Ferne. Von der Einbindung in das kulturelle Weltsystem zeugten vielfältige Kontakte der Schriftsteller und Künstler, ein wachsender Austausch von Theaterkonzeptionen und Kunstausstellungen oder auch eine Internationalisierung des Sports, etwa mit der Teilnahme an den Olympischen Spielen in Stockholm 1912.


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