Literarische Romantik. Gerhard Kaiser

Literarische Romantik - Gerhard Kaiser


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1, 249). Die zeigt sich nicht nur darin, dass viele romantische Erzählungen und Romane (etwa Novalis’ Heinrich von Ofterdingen) im Mittelalter situiert sind, sondern auch darin, dass das Mittelalter von romantischen Autoren wie A.W. Schlegel (in seinen Berliner Vorlesungen, s. dazu unten) oder Novalis (in seiner programmatischen Studie Die Christenheit oder Europa) als positive Projektionsfläche herangezogen und konstruiert wird, wenn es darum geht, die Zustände in der aufgeklärten, aber als leidenschafts- und geheimnislos empfundenen Gegenwart zu kritisieren . Das Mittelalter wird dann im Rahmen eines dreistufigen Geschichtsschemas zum ursprünglichen »goldenen Zeitalter« stilisiert, aus dessen Paradiesen sich der Mensch der Neuzeit selbst vertrieben habe. Als dritte Stufe wird eine im Zeichen des Romantischen »wiederverzauberte« Welt in die Zukunft projiziert. Neben dieser Funktion einer vergangenheitsorientierten Gegenwartskritik entwerfen die Romantiker mit ihrem eingeschönten Bild des Mittelalters natürlich auch ein Konkurrenzprogramm zur Antikeorientierung der deutschen Klassik.

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      Zum anderen steht der »Klosterbruder« für die latente oder auch ganz offene Neigung der Romantiker, jener »nach dem Ueberirdischen durstige[n] Seelen« (N II, 750), zum Religiös-Spirituellen im Allgemeinen, zum Katholizismus (man denke an die Konversion Schlegels, die Reversion Brentanos, an den Katholizismus Eichendorffs) im Besonderen. Die Sinn- und Ordnungsverheißungen eines christlichen Weltbildes gewinnen für die Romantiker vor allem nach dem Abkühlen des frühromantischen Überschwangs zunehmend an Attraktivität. Aber schon 1799 heißt es etwa bei Novalis in Die Christenheit oder Europa:

      »Es waren schöne glänzende Zeiten, wo Europa ein christliches Land war, wo Eine Christenheit diesen menschlich gestalteten Welttheil bewohnte; Ein großes gemeinschaftliches Interesse verband die entlegensten Provinzen dieses weiten geistlichen Reichs.« (N II, 732)

      Bei Wackenroder geht diese neue Begeisterung für das Mittelalter und den Katholizismus, die bald von vielen Romantikern geteilt werden sollte, auf seine Nürnberg-Reise im Juni 1793 zurück. In einem seiner Reisebriefe an die Eltern schreibt er:

      »Nürnberg ist eine Stadt, wie ich noch keine gesehen habe, u hat ein ganz besonderes Interesse für mich. Man kann sie, ihres Äußern wegen, in der Art romantisch nennen.« (W II, 188)

      Wenn Wackenroder an dieser Stelle Nürnbergs mittelalterlich anmutende Architektur mit dem Terminus »romantisch« belegt, deutet sich in seinem Wortgebrauch bereits jene folgenreiche Bedeutungsverschiebung bzw. -erweiterung an, von der am Beginn dieses Kapitels die Rede war: von der älteren Bedeutung des Romanhaften, Wunderbaren oder auch Naturhaft-Pittoresken zum Zentralbegriff einer modernen, dem Lob des klassischen Altertums entgegengesetzten Dichtungstheorie, wie sie insbesondere von den Gebrüdern Schlegel in der Folgezeit vor allem im Athenäum propagiert wurde.

      Bevor es im folgenden Kapitel genau um jene Dichtungstheorie und die Gebrüder Schlegel gehen soll, hier abschließend noch einmal die fünf zentralen Charakteristika der deutschsprachigen Romantik in der Übersicht: |14◄ ►15|

Herzensergießungen1.Aufwertung des Gefühls
eines2.Subjektivität
kunstliebenden3.Kunstemphase und Kunstreflexion
Klosterbruders4.Mittelalter als gegenwartskritische Projektionsfläche
5.Neigung zum Religiös-Spirituellen, zum Katholischen

      Weiterführende Literatur

      Kremer, Detlef: Romantik. 2. Aufl. Stuttgart/Weimar 2003

      Safranski, Rüdiger: Romantik. Eine deutsche Affäre. München 2007

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      »Die Welt muß romantisiert werden« – Frühromantische Gruppenbildung, Literaturpolitik und Programmatik

      Die Phase der Frühromantik ist vergleichsweise kurz, reduziert sie sich doch – sieht man einmal von den üblichen Inkubationszeiten solcher Strömungen ab – auf die zweite Hälfte der 1790er Jahre. In diese ca. 5 bis 6 Jahre fallen die Freundschaft zwischen Wackenroder und Tieck (die mit dem frühen Tod des Ersteren 1798 endet), zwischen Tieck und Novalis (die mit dem ebenso frühen Tod Novalis’ 1801 endet) sowie zwischen Friedrich Schlegel (1772 – 1829) und Novalis. Ebenfalls hier verortet ist die Zusammenarbeit der Gebrüder Schlegel, die zwischen 1798 und 1800 gemeinsam das erste romantische Publikationsorgan, das Athenäum, herausgeben, die als skandalös geltende Beziehung zwischen Friedrich und der damals noch verheirateten Bankiersgattin Dorothea Veit (1763 – 1839), die Beziehung zwischen August Wilhelm Schlegel (1767 – 1845) und seiner Frau Caroline (1763 – 1809), die dann wenig später Schlegel für den Philosophen Schelling (1775 – 1854) sitzen lässt.

      Wechselnde Gruppenbildungen und Jena als wichtiges Zentrum

      Die kurzzeitigen Zentren der instabilen und ständig im Fluss begriffenen, romantischen Geselligkeiten sind Jena, Berlin und dann wieder Jena. Im August 1796 ziehen die Schlegels auf Einladung Schillers, mit dem sie sich später heillos überwerfen, nach Jena und knüpfen dort auch Kontakte mit Fichte. Im Juli 1797, nach dem Zerwürfnis mit Schiller, zieht Friedrich Schlegel wieder nach Berlin, verkehrt dort in den literarischen Salons der Rahel Levin und Henriette Herz und beginnt eine Liebesaffäre mit Dorothea Veit. Hier lernt er auch den Philosophen Friedrich Schleiermacher (1768-1834) und den Dichter und Übersetzer |16◄ ►17| Ludwig Tieck kennen. Diese Berliner Periode dauert bis in den Spätsommer 1799. Das dritte größere Zusammentreffen, September 1799 bis etwa April 1800, ist das wichtigste – zumindest hat es als Konstitution der sogenannten »Jenaer Romantik« am meisten von sich reden gemacht. Hier treffen August Wilhelm und seine Frau Caroline mit Friedrich und Dorothea, Ludwig Tieck und seiner Frau sowie Novalis zusammen. Auf »Symphilosophie« und »Sympoesie«, also auf eine neue Form gemeinschaftlicher Kulturproduktion unter Wahrung der größtmöglichen Freiheit der beteiligten Individuen zielen Friedrich Schlegel zufolge alle diese vorübergehenden Romantiker-Bünde und die neuen Formen der Geselligkeit in der Frühphase. Das ist groß gedacht und geht natürlich – im Großen und Ganzen gesehen – am Ende schief. Der jugendbewegte Elan des schönen Chaos – die meisten der beteiligten Akteure befinden sich noch in ihren 20ern – verebbt, die Projekte scheitern, die hochfliegenden Pläne, das Experiment einer Gemeinschaftlichkeit ohne Zwang und feste Regeln – sie geraten in den Sog der Fliehkräfte des Allzumenschlichen. Um 1801/02 kommt es zum Zerfall der ohnehin nur lose gefügten Gruppe. Friedrich Schlegel beginnt – auf der Suche nach ordnungsstiftenden ideellen Bezugssystemen – seine Neigung für das Religiöse zu entdecken (die schließlich in seiner Konversion zum Katholizismus 1808 mündet), Novalis stirbt, Tieck – ohnehin eher in der Rolle des etablierten Außenseiters – verlässt Jena zu Beginn des Jahres 1801, Friedrich Schlegel und Schleiermacher überwerfen sich über dem Projekt einer Platon-Ausgabe und die sehr selbstbewusste Caroline Schlegel wird zur Lebensgefährtin Schellings.

      Literaturpolitik und Programmatik I: August Wilhelm Schlegels »Kritik an der Aufklärung«

      Als August Wilhelm Schlegel zwischen 1801 und 1804 in Berlin seine Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst hält, ist die Konstitutionsphase der deutschen Romantik, die sogenannte Frühromantik, also in gewisser Weise bereits zu Ende.

      Und doch sind es erst die Vorlesungen des Berliner Privatgelehrten, die im Sinne einer eigenständigeren denkerischen Leistung zwar nicht sonderlich originell sind, die aber dennoch die einzelnen Ideen des frühromantischen Kreises zum ersten Mal in pointierten Formulierungen zusammenfassen. Damit erst wird die Romantik als ein klar abgrenzbarer Diskurs einem breiteren Publikum vermittelt.

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      Nicht weniger nimmt er sich vor, als eine »Schilderung des gegenwärtigen Zustandes der Europäischen Bildung« (AWS, 537) überhaupt zu liefern. In diesem Zusammenhang widmet er seine fünfte und sechste Vorlesungsstunde


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