Literarische Romantik. Gerhard Kaiser

Literarische Romantik - Gerhard Kaiser


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nicht mehr mit Andacht [hier lässt der Klosterbruder grüßen, G. K.], sondern bloß zu gedankenloser Zerstreuung lesen«. (AWS I, 535)

      Letzteres ist natürlich gerade auch für die romantischen Produkte, die in ihrer Komplexität geradezu programmatisch eine langsame und wiederholte Lektüre einfordern, desaströs: Droht ihnen doch angesichts der Masse an leichter konsumierbaren Konkurrenzprodukten, der »Verdichtung der Kommunikation«, das notwendige Maß an Aufmerksamkeit erst gar nicht zuteil zu werden. Bei aller Kritik an »der« Aufklärung erscheint sie Schlegel jedoch als ein notwendiges Durchgangsstadium in einem triadischen Geschichtsschema, ein »Übergang, eine Vorbereitung« (AWS I, 538) in der Entwicklungsgeschichte der menschlichen Kultur; ein Stadium, hinter das – bei allem Lobpreis des Mittelalters – zwar nicht mehr zurückgegangen werden könne, das es aber nun zu überwinden gelte. Am Ende seiner Ausführungen steht dann das frühromantische Konkurrenzangebot zur »Wiederverzauberung« der zuvor beklagten Welt. Es ist vor allem die neue, romantische Poesie, die das »Beginnen |21◄ ►22| einer andern Zeit« (AWS I, 539) ankündige. Diese neue Zeit kündigt sich zwar in einer von Schlegel mit geradezu religiöser Inbrunst umschriebenen Kunst an – »[w]o man einmal das Göttliche gefunden, gebe man sich mit einer Art von Andacht hin, um sich ganz davon durchdringen zu lassen« (AWS I, 536) –, allerdings bleibt insgesamt doch recht vage, wie die Beschaffenheit der neuen, romantischen Kunst sei. Ein Blick auf die Überlegungen seines Bruders mag hier weiterhelfen.

      Literaturpolitik und Programmatik II: Friedrich Schlegels 116. Athenäums-Fragment und Novalis’ »Romantisierungs«-Postulat

      Vielfach gebraucht, vielleicht seltener hinreichend erläutert ist das Schlagwort von der »progressiven Universalpoesie«. Geprägt und ›entwickelt‹ von Friedrich Schlegel in seinem 116. Athenäums-Fragment, verdichtet sich in ihm – eben schlagwortartig – nicht nur Friedrich Schlegels Poetik, sondern auch weitestgehend das frühromantische Literaturverständnis. Einige Erläuterungen zum Athenäum seien hier vorgeschaltet.

      Das Athenäum (1798-1800)

      Von der sprunghaften Zunahme der Zeitschriften auf dem literarischen Markt im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts war bereits die Rede. Warum gründen Schriftsteller Zeitschriften? Nicht nur Schlegel, auch andere haben dies ja immer wieder getan: Man denke etwa an die diversen Projekte Schillers. Friedrich Schlegel selbst gibt auf diese Frage in einem Brief vom 31.10.1797, in dem er seinem Bruder den Gründungsplan zu einer Zeitschrift unterbreitet, eine halb ironische und doch zugleich auch erhellende Antwort:

      Ein andrer großer Vortheil dieses Unternehmens würde wohl seyn, dass wir uns eine große Autorität in der Kritik machen, hinreichend, um nach 5-10 Jahren kritische Dictatoren Deutschlands zu seyn, die Allgemeine Litteratur-Zeitung zu Grunde richten, und eine kritische Zeitschrift zu geben, die keinen anderen Zweck hätte als Kritik. (FS 24, 31)

      Natürlich zielt die Anspielung mit den »kritischen Dictatoren« auch ironisch auf das zum Zeitpunkt des Briefes noch nicht eingestellte, klassische Konkurrenzprojekt der Horen von Goethe und Schiller. Aber sehr schön zeigt der |22◄ ►23| Brief, worum es bei literarischen Zeitschriften auch immer geht: nämlich darum, Positionen innerhalb des literarischen Feldes zu besetzen, indem man der eigenen Stimme im Spiel um die Deutungshoheit darüber, was denn Literatur eigentlich sei, ein Forum verschafft, von dem aus sie gehört wird.

      Freilich konnte das Athenäum – anders als die von Schlegel erwähnte Jenaer Allgemeine Literatturzeitung – in breiteren Kreisen keinen Anklang finden. Das Athenäum war von ähnlicher Kurzlebigkeit wie Schillers Horen. Im Mai 1798 erschien die erste Ausgabe, zwei Jahre, sechs Hefte und zwei Verleger später war schon wieder Schluss. Zu extravagant, zu (bewusst) uneinheitlich, zu polemisch sicherlich auch war das Profil der Zeitschrift, so dass sich die Festsetzung der Auflage auf 1.250 selbst für heutige Verhältnisse als geradezu gewagt ausnimmt. Zur Profilbildung der frühromantischen Bewegung hat die Zeitschrift gleichwohl beigetragen: Zum einen erschienen in den zwei Jahren ihres Bestehens in dem Organ einige Beiträge, die für die Selbstverständigung und die Außendarstellung der Frühromantiker bedeutsam waren: neben den Fragmenten Schlegels seine für die Literaturkritik und -wissenschaft Maßstäbe setzende Wilhelm Meister-Rezension, sein Gespräch über die Poesie, Novalis’ Sammlung Blüthenstaub und zum ersten Mal seine Hymnen an die Nacht. Zum anderen sorgte sie innerhalb des literarischen Feldes vor allem durch die Gegner, die sie sich schuf, für Aufmerksamkeit: Nicht zuletzt seitens der Berliner Spätaufklärung um Friedrich Nicolai sahen sich die Herausgeber wiederholt scharfen Angriffen ausgesetzt.

      Das Fragment

      Die Form des Fragments spielt vor allem für Schlegel eine gewichtige Rolle. Mit seinem Charakter des Unabgeschlossenen, Werdenden, das gleichwohl auf ein Ganzes verweist, mit seiner Gedankenführung, die zwar philosophisch ist, sich aber den philosophischen Normen der Systematik verweigert, indem sie an die Stelle der stringenten Argumentation und Beweisführung den »Witz«, d.h. die Fähigkeit zu überraschenden Analogiebildungen setzt, spiegelt das Fragment auf formaler Ebene einige von Schlegels Grundüberzeugungen zur romantischen Poesie, mithin zur progressiven Universalpoesie wider. Das Fragment erscheint als eine Textform, die es dem Denken ermöglicht, sich selbst beim Denken zuzuschauen – ich werde auf diesen Aspekt der Selbstreflexivität noch einmal zurückkommen. Als Bruchstück von etwas setzt das Fragment ein ehemaliges Ganzes voraus oder deutet auf ein zukünftiges Ganzes voraus. Lothar Pikulik (Frühromantik. Epoche – Werke – Wirkung. |23◄ ►24| 2. Aufl. München 2000, 127) findet dafür die prägnante Beschreibung: »Im retrospektiven Sinne ist das Fragment Relikt, im prospektiven Sinne ist es Projekt.« In dieser Einsicht in die Diskrepanz, in die Spannung zwischen endlicher Bruchstückhaftigkeit und angestrebtem, letztlich aber nicht zu erreichendem Ganzen, Unendlichen, auf das das Fragment ja auch verweist, manifestiert sich das, was als »romantische Ironie« bezeichnet wird. Gemeint ist damit eben die Einsicht in die Paradoxie von Universalanspruch und Unabschließbarkeit.

      Das 116. Athenäum-Fragment und Novalis’ »Romantisierungs«-Postulat

      Kommen wir zum Inhalt des 116. Athenäum-Fragments mit einem gelegentlichen Seitenblick auf Novalis’ »Romantisierungs«-Postulat. »Die romantische Poesie ist eine progressive Universalpoesie« (FS 2, 182), so heißt es sloganartig und prägnant gleich zu Beginn. Das klingt schön und gut. Aber was bedeutet es? Drei Aspekte sind es, die Schlegel zufolge die romantische Poesie vor allem kennzeichnen:

      1. ihre Universalität; 2. ihre Transzendentalität; 3. ihre Progressivität.

      1. Universalität: Damit meint Schlegel, dass die romantische Poesie durch den Anspruch gekennzeichnet ist, grenzüberschreitend zu sein. a) Die romantische Poesie überschreitet die traditionellen Grenzen zwischen den Gattungen und sie ist demzufolge befugt, Dramatisches mit Lyrischem und Epischem zu vermischen; »alle getrennten Gattungen«, so heißt es, werden »wieder« vereinigt (auch hier modelliert das dreistufige Geschichtsmodell das Denken: Etwas, das wieder vereinigt wird, muss irgendwann einmal bereits zusammen gewesen sein).

      b) Die romantische Poesie überschreitet die Grenzen zwischen Kunst und Wissenschaft, denn sie will »die Poesie mit der Philosophie und Rhetorik in Berührung […] setzen […], den Witz [d.h. hier: das Geistreiche, G.K.] poetisieren und die Formen der Kunst mit gediegnem Bildungsstoff jeder Art anfüllen und sättigen.«

      c) Die romantische Poesie überschreitet schließlich die Grenzen zwischen Kunst und Leben, sie will »die Poesie lebendig und gesellig, und das Leben und die Gesellschaft poetisch machen«. (FS 2, 182)

      Eine Kunst, die diesen Forderungen nach mehrfacher Grenzüberschreitung genügt, ist zugleich eine synthetische Macht, insofern es ihr gelingt, ganz unterschiedliche Elemente miteinander zu verbinden. Oder, wie Schlegel es formuliert: »Die romantische Poesie ist unter den Künsten |24◄ ►25| was der Witz der Philosophie, und die Gesellschaft, Umgang, Freundschaft und Liebe im Leben ist.« (FS 2, 183) Diese Fähigkeit zur Synthese, die Fähigkeit, Heterogenes, Einfaches und Schwieriges, Bekanntes und Unbekanntes, Hohes und Niedriges zusammenzubringen


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