Qumran. Daniel Stökl Ben Ezra
|53|Das oben genannte Beispiel der Self Glorification Hymn (1QHa, 4Q427, 4Q431 = 4Q471b) ist noch weitaus komplexer. Die Hymne weist starke wörtliche Parallelen zu 4Q491 Frag. 11 auf, einem Exemplar der Kriegsrolle. 4Q491 ist von Abegg später wiederum in zwei oder drei Rollen aufgeteilt worden (4Q491a, 4Q491b, 4Q491c). Einige sehen dabei Fragment 11 als unabhängigen Text (4Q491c), die Self Glorification Hymn, doch sind die Gründe für die Trennung von 4Q491b nicht gewichtig.
Wie auch immer es sei, viele Sätze in 4Q431 und 4Q491 Frag. 11 sind gleich. Allerdings längst nicht alle Sätze, und oft erscheinen sie in anderer Reihenfolge. Eine maximalistische Position der Mehrheit deutet 4Q431 und 4Q491 als zwei Rezensionen eines Textes. Die minimalistische Gegenposition sieht dagegen zwei getrennte Texte. Maximalisten benutzen Daten aus einer Rezension für die Interpretation der anderen, in der diese fehlen. Minimalisten lehnen dies ab (s. den Forschungsbericht bei García-Martínez, in diesem Fall selbst ein Minimalist). Die Konsequenzen sind immens: Für die Maximalisten handelt es sich um einen menschlichen Sprecher, der bei Gott wohnt und sich den Göttern/Engeln überlegen fühlt, vielleicht den Lehrer der Gerechtigkeit, vielleicht einen eschatologischen Priester, vielleicht jedes die Hymne rezitierende Gemeindemitglied. Für den Minimalisten ist es eine engelhafte Figur, z.B. Michael. Wie gesagt, dies ist ein Extrembeispiel, wenn auch ein besonders wichtiges (wir werden es im Teil über die Geschichte des Jachad genauer besprechen, S. 274). Die meisten Fälle sind wesentlich klarer.
3.2 Von der Fragmentengruppe zur Reihenfolge
Wenn ein Editor eine Fragmentengruppe, eine „Rolle“, zusammengestellt hat, liegt vor ihm immer noch die Aufgabe, die Fragmente in eine Reihenfolge zu bringen. Für die biblischen und anderen bekannten Texte (also alle Paralleltexte zu den „großen“ Rollen) ist dies, wenn die Fragmente nicht allzu klein waren, eine lösbare Aufgabe. Gibt es mehrere Handschriften mit parallelem Text, helfen die Details jedes Zeugen zur Entschlüsselung der Lesungen und Reihenfolge der anderen (so z.B. besonders für das Apokryphon Jeremias C und für 4Q434–438 Barkhi Nafschi). Ansonsten kann der Inhalt dem Ordnungsbewusstsein des Editors Hilfestellung leisten. Im schlimmsten Fall bleibt nur die Zuflucht zur Sortierung nach Größe.
Für die Rekonstruktion einer Rolle ist der Nachvollzug des Zerstörungsvorgangs entscheidend, ähnlich wie für Polizisten die Tatrekonstruktion. |54|Hartmut Stegemann und seine Göttinger Schüler, allen voran Annette Steudel, haben diese Methodologie am weitesten entwickelt. Dabei sind weniger der Text, sondern vielmehr die Konturen der Fragmentränder und wiederkehrende Löcher in den Fragmenten entscheidend. Oft sind Fragmentenstapel das Endresultat einer ursprünglich zusammengerollten Schriftrolle, die von Nagern zerfressen, von Würmern durchbohrt oder von Feuchtigkeit von innen oder von außen zersetzt worden ist. Ist sie zum Beispiel stehend in einem Krug aufbewahrt worden, wird ein Teil der Zerstörung durch ihr eigenes Gewicht verursacht und es fehlt dann der untere Teil (Pfann). Oft haben Rollen von innen so starken Druck gegen ihren eigenen Verschlussriemen ausgeübt, dass sie sich selbst zweigeteilt haben. Nähte, immer etwas dicker als der Rest eines Pergamentbogens, haben auf den Rücken der darüber gelegenen Windung gepresst – bis dort ein Riss entstanden ist. Vielfach verlaufen Bruchkanten gerade entlang der Linien, die mit einem scharfen Gegenstand gezogen worden waren, um dem Kopisten den Zeilenabstand oder die Spaltenmargen anzudeuten.
Der Stapel repräsentiert die Abfolge der Fragmente in den einzelnen Windungen der Rolle. Zwar war der Text stets auf der Innenseite, doch wissen wir nicht, ob die Rolle nach ihrer letzten Benutzung korrekt zurückgerollt worden war (wie man es früher oft und heute manchmal noch bei einem Mikrofilm in der Bibliothek vorfinden kann). War der Textanfang (das rechte Ende der Rolle) außen und das Textende (das linke Ende der Rolle) innen, konnte sie mit ihrem Verschluss verschlossen werden. Dann war sie oft enger zusammengerollt als eine Rolle, die nach dem Lesen nicht wieder korrekt zurückgerollt worden war. War der Textanfang innen, liegt das textlich erste Fragment im Stapel zuunterst.
Manchmal kann man derartige Stapel auch aus Einzelfragmenten rekonstruieren. Hier kommt die Stegemann-Methode ins Spiel. Die zerstörerische Arbeit der Nager und Mäuse hat nämlich oft mehrere Schichten sehr ähnlich betroffen. Man kann es anhand eines zusammengerollten Crêpes leicht zu Hause ausprobieren.
Ursprünglich übereinander lagernde Fragmente haben dann ähnliche Konturen oder einen Fleck, ein Loch, einen Spalt an der Stelle, wo sie früher einmal übereinander gelegen hatten. Die gleichen Konturen oder der gleiche Schaden wiederholen sich in berechenbaren Abständen. Es lohnt sich, auf der Website des Shrine of the Book die dort präsentierten fünf kompletten Schriftrollen anzuschauen und ihre Ränder auf wiederkehrende Zerstörungsmuster zu prüfen. Eine Rolle ist eine archimedische Spirale, oder vereinfacht gesprochen eine Gruppe konzentrischer Kreise, deren Umfang (nach der Formel U = 2∙π∙r) mit nach innen abnehmendem Radius |55|immer kleiner wird. Von außen nach innen wird der Abstand zwischen jeder Schicht immer um 0,1 bis 0,3 cm geringer. Wie viel genau hängt von der Pergamentdicke ab, und davon, wie fest die Rolle zusammengewickelt gewesen ist. So lassen sich plötzlich aus scheinbar völlig unverbundenen Fragmenten ganze Rollen rekonstruieren. Viele Editoren haben diese erst nach 1960 entwickelte, sehr zeitaufwendige Methode nicht verwendet, so dass hier in der Zukunft noch neue Erkenntnisse zu erwarten sind.
3.3 Abkürzungssystem
Das Transkriptionssystem haben wir oben schon erklärt. Zur eindeutigen Identifizierung eines jeden Fragments auf den Glasplatten in der Scrollery und in der vorläufigen Konkordanz brauchten die Teammitglieder ein genaues Abkürzungssystem. Das heutige AbkürzungssystemAbkürzungssystem ist angesichts der sehr komplexen Daten sehr einfach: Von links nach rechts vom Groben ins Feine: Zunächst Höhle, Ort, Rolle. Für genaue Angaben einer Stelle arbeitet man nicht mit Kapitel und Vers, sondern mit Fragment und/oder Spalte und Zeile.
Ort | Rolle | Fragment | Spalte | Zeile | ||
11Q5 XXVII 4 | = | Höhle 11 in Q(umran) | 5 | 27 | 4 | |
4Q387 2 iii 5 | = | Höhle 4 in Q(umran) | 387 | 2 | 3 | 5 |
1Q19 8 2–3 | = | Höhle 1 in Q(umran) | 19 | 8 | 2–3 |
Wenn ein Fragment nur eine Spalte hat, wird die „I“ nicht angegeben, und wenn eine Rolle nur aus einem Fragment besteht, wird die Fragmentnummer „1“ nicht angegeben. Manche schreiben vor die Fragmentnummer ein kleines „fr.“ oder „frag.“ oder setzen die Zeilennummer in einem kleineren Schrifttyp. Nun gibt es manchmal die Situation, dass ein großes Fragment Text von mehreren Spalten enthält, man aber nicht weiß, welche Spalten dies im ursprünglichen Originaldokument einmal waren (4Q387 oben). Dann benutzt man statt Großbuchstaben Kleinbuchstaben für die römischen Zahlen (i,ii,iii, etc.). Römische Zahlen in Großbuchstaben trifft man eher bei den gut erhaltenen Schriftrollen an, denn aus einer Spalte in einem Fragment auf die Stelle der ursprünglichen Spalte in der Rolle schließen zu können, ist sehr schwierig. Leider halten sich nicht alle Forscher an diese Konvention.
Eine Rolle ist über ihre Nummer eindeutig identifizierbar. Diese Nummer ist nicht willkürlich. Bei jeder Höhle erhielten die biblischen |56|Fragmente die niedrigen Nummern in der Reihenfolge der biblischen Bücher. Auch die anderen Handschriftengruppen sind nach Möglichkeit mit aufeinander folgenden Nummern versehen