Geschichte der deutschen Literatur. Band 3. Gottfried Willems
Auch hier wird der Standpunkt der Aufklärung mithin nicht wirklich verlassen.
Sturm und Drang und Aufklärung
Der Sturm und Drang testet die Grenzen des aufklärerischen Denkens aus, doch er überschreitet sie nicht. Und auch wenn man dem alten Epochenschema folgen und anerkennen wollte, daß der Sturm und Drang diese Grenzen gesprengt und die Aufklärung hinter sich gelassen hätte, bliebe immer noch zu fragen, wie man wissenschaftlich begründen wollte, daß es sich dabei um ein Verhältnis der „Überwindung“ gehandelt hätte, also um einen Fortschritt, ein Bessermachen, einen Schritt zu mehr Wahrem-Gutem-Schönem. Wie wollte man wohl wissenschaftlich entscheiden, was von beidem als die größere Kinderei zu gelten hätte, das Gezärtel und Getändel der empfindsamen Idylle oder der Kult des Heldischen und der großen Leidenschaft im Sturm und Drang. Wie wollte man entscheiden,
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wo mehr Wahrheit zu finden sei, im skeptischen Pragmatismus der Aufklärung oder in den Totalitätsbegriffen ihrer Gegner? Hier von Verhältnissen der „Überwindung“ zu sprechen, hat wenig mit Wissenschaft, aber viel mit Ideologie zu tun, mit Vorurteilen und unausgewiesenen Wertungen.
Modernisierung und Individualisierung
Damit stellt sich nun die Frage, was dafür verantwortlich sein mag, daß so viele am Ende des 18. Jahrhunderts der Aufklärung und ihrem skeptischen Pragmatismus den Rücken gekehrt haben und zu einer Haltung des Aufs-Ganze-Gehens übergelaufen sind, daß sie das Ausgehen auf Totalitäten nun für „tiefer“ halten wollten als eine Kultur der Selbstkritik und Selbstbescheidung der Vernunft. Da es sich dabei um einen Prozeß handelt, den letztlich nichts von dem hat aufhalten können, was ihm diskursiv an Argumenten entgegengehalten worden ist, sind die Ursachen in fundamentalen Tendenzen der geschichtlichen Entwicklung zu suchen.
Sie liegen wohl vor allem in der fortschreitenden Modernisierung und Individualisierung der Gesellschaft. Das wachsende Bewußtsein, in einem Prozeß der Modernisierung begriffen zu sein, ließ den Wunsch immer dringlicher werden, die Gesellschaft als ganze in den Griff zu bekommen, um den Modernisierungsprozeß rational steuern zu können – Französische Revolution. Und die Individualisierung, die Aufwertung des Persönlichen, Subjektiv-Individuellen brachte sich eben in dem Wunsch des Einzelnen zur Geltung, sich als „ganz und groß“ begreifen zu können. Klassische Formulierungen für diesen Wunsch finden sich in der schon erwähnten Rede Goethes „Zum Shakespeares-Tag“. Da meldet sich ein Ich zu Wort, das von sich sagt: „Ich! Der ich mir alles bin, weil ich alles nur durch mich kenne“ (HA 12, 224), und das auf den Spuren Shakespeares und seiner Dichtung in die Dimension eines genialischen Groß-und-Ganz-Seins hineinwachsen will; alles andere ist ihm zu wenig, empfindet es als kümmerlich und kleinmütig.
Schiller als Kritiker des Aufs-Ganze-Gehens
Zum Schluß dieser Überlegungen zum Umsichgreifen von „Totalitätsobsessionen“ in der „Goethezeit“ nun noch ein Beispiel dafür, wie Goethe und Schiller der Neigung ihrer Zeitgenossen zu Radikalismus und Extremismus entgegengetreten sind, ein Beispiel aus der Feder Schillers, in dem mit dem Geist des Aufs-Ganze-Gehens sowohl in seinen theoretischen als auch in seinen praktischen Ansprüchen abgerechnet wird, ein Gedicht aus dem Jahr 1800.
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Die Worte des Wahns
Drei Worte hört man, bedeutungsschwer,
Im Munde der Guten und Besten.
Sie schallen vergeblich, ihr Klang ist leer,
Sie können nicht helfen und trösten.
Verscherzt ist dem Menschen des Lebens Frucht,
Solang er die Schatten zu haschen sucht.
Solang er glaubt an die Goldene Zeit,
Wo das Rechte, das Gute wird siegen, –
Das Rechte, das Gute führt ewig Streit,
Nie wird der Feind ihm erliegen,
Und erstickst du ihn nicht in den Lüften frei,
Stets wächst ihm die Kraft auf der Erde neu.
Solang er glaubt, daß das buhlende Glück
Sich dem Edeln vereinigen werde –
Dem Schlechten folgt es mit Liebesblick,
Nicht dem Guten gehöret die Erde.
Er ist ein Fremdling, er wandert aus
Und suchet ein unvergänglich Haus.
Solang er glaubt, daß dem irdschen Verstand
Die Wahrheit je wird erscheinen,
Ihren Schleier hebt keine sterbliche Hand,
Wir können nur raten und meinen.
Du kerkerst den Geist in ein tönend Wort,
Doch der freie wandelt im Sturme fort.
Drum, edle Seele, entreiß dich dem Wahn
Und den himmlischen Glauben bewahre!
Was kein Ohr vernahm, was die Augen nicht sahn,
Es ist dennoch, das Schöne, das Wahre!
Es ist nicht draußen, da sucht es der Tor,
Es ist in dir, du bringst es ewig hervor. (SW 1, 215–216)
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Es ist unschwer zu sehen, wie hier der skeptische Pragmatismus der Aufklärung noch einmal gegen den neuen Geist des Aufs-Ganze-Gehens in Stellung gebracht wird, der sich auf je eigene Weise in der Französischen Revolution und der Frühromantik Bahn gebrochen hat.
Der Phantasiebegriff der Frühromantik
Und damit zurück zur Frühromantik und zu ihren Versuchen, der Phantasie in Poetik und Anthropologie eine absolute Geltung zu verschaffen. Es hat sich gezeigt, daß die Frühromantik mit solcher Aufwertung des Subjektiv-Phantastischen und Phantastisch-Subjektiven an die Poetik der Aufklärung anknüpft, wie sie das Stimulieren der Einbildungskraft zur zentralen Aufgabe des Poeten erklärt hat, und daß bei ihr insofern nur die Radikalisierung neu ist, die sie diesem poetologischen Postulat zuteil werden läßt. Es ist ferner deutlich geworden, daß sich die Frühromantik zu solcher Radikalisierung durch das Freiheitspathos der Französischen Revolution animieren läßt. Das darf man wohl als einen Beleg dafür werten, daß die neue Sympathie der Intellektuellen für die Extreme etwas mit der Logik der Modernisierung zu tun hat, ist die Französische Revolution doch das erste historische Großereignis in der Geschichte der Modernisierung, zumindest eine frühe Manifestation von besonderer Massivität und Auffälligkeit.
Die Frühromantik zieht den Freiheitsbegriff der Revolution – um die Hauptpunkte ihres Programms noch einmal zu benennen – in dem Bestreben, ihn noch radikaler, prinzipieller, „tiefer“ zu denken als deren politische Protagonisten, aus dem Politischen ins Ästhetische. Frei sein wollen, so ihre Überlegung, heißt, als Ich, Person, Individuum, Subjekt frei sein wollen. Worin aber bin ich Ich, was bildet das Zentrum dessen, daß ich Person, Individuum, Subjekt bin? Die Phantasie, wie sie dem sinnlich Gegebenen, der Erfahrung, dem Faktischen, der Realität, der Wirklichkeit, den natürlichen und gesellschaftlichen Gegebenheiten, in die das Ich eingebunden ist und die es insofern begrenzen, immer schon voraus ist. Deshalb muß die Befreiung des Ichs, des Individuum-Subjekts bei der Befreiung seiner Phantasie ansetzen.
Das eigentliche Werk der Befreiung ist eine „progressive Universalpoesie“, in der die Phantasie aufs Ganze geht, und zwar dadurch aufs Ganze geht, daß sie alles Gegebene, einmal Erkannte, Getane und Gemachte sogleich wieder übersteigt, jeden Halt in der Realität als eine Fessel von sich abstreift und hinter sich läßt. Freiheit wird so aus
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einem politisch-rechtlichen Begriff zu einer Kategorie der Innerlichkeit, denn die Phantasie zu entfesseln ist nun einmal ein innerer Vorgang. Die Außenwelt –