Geschichte der deutschen Literatur. Band 3. Gottfried Willems
verloren, während die aufklärerisch-empfindsamen Impulse, auf denen sie beruhte, weiterwirkten, ja ihre Potentiale erst in der Zeit von Klassik und Romantik voll entfalteten. Goethe ließ auf seinen Sturm-und-Drang-„Götz“ von 1773 gleich im nächsten Jahr 1774 den „Werther“ folgen, und das ist eben ein empfindsamer Roman, der wie alle Werke der Empfindsamkeit ein empfindsames Individuum auf der Suche nach dem Natürlichen zeigt und ebensowohl vom Glück des Gefühlslebens wie von den Problemen des Gefühlsüberschwangs, den Gefahren der „Schwärmerei“ handelt. Das vermag man unschwer zu erkennen, wenn man den „Werther“ mit seinen Vorbildern und Anregern aus dem Raum der englischen und der französischen Empfindsamkeit
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vergleicht, mit den Romanen von Samuel Richardson (1689–1761) und Rousseau,36 oder auch mit dem Bürgerlichen Trauerspiel als einer besonders markanten Gattung der empfindsamen Literatur.37 Dem Sturm und Drang mag am „Werther“ allenfalls noch die Art und Weise zuzurechnen sein, wie der Anspruch des Gefühls in ihm auf die Spitze getrieben wird und in eine zerstörerische Leidenschaft umschlägt; Werther endet ja im Selbstmord.
Die Themen Selbstmord und Kindsmord
Doch selbst die literarische Behandlung des Themas Selbstmord im „Werther“ gehört ganz der Aufklärung an. Sie verweist auf eine Diskussion zurück, die sich durch das gesamte 18. Jahrhundert verfolgen läßt. Die Aufklärer wollten im Selbstmord nicht mehr nur eine Todsünde erblicken, wie es der christlichen Tradition entsprach, sondern auch den Ausdruck einer seelischen Notlage, deren „natürliche Ursachen“ sich ergründen ließen, bei dem es also auf ein Verständnis ankäme, das mit Mitteln der Psychologie und Soziologie der Lage und den Motiven des Selbstmörders nachginge.38 Ähnliches gilt übrigens von einem zweiten Lieblingsthema des Sturm und Drang, das noch in Goethes „Faust“, in der sogenannten „Gretchentragödie“ eine wesentliche Rolle spielt, dem Thema des Kindsmords, der Tötung eines unehelich geborenen Kinds durch seine Mutter. Auch hier will sich der Aufklärer nicht mit einem metaphysischen Verdammungsurteil begnügen, wie es der Tradition des Christentums entspricht, will er versuchen, die Lage und die Motive der Kindsmörderin von ihren „natürlichen Ursachen“ her psychologisch und soziologisch aufzuhellen.39
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Vom Sturm und Drang zur „Weimarer Frühklassik“
Was nun die sogenannte Weimarer Frühklassik 40 der Jahre 1775 bis 1786 bzw. 1794 anbelangt, so läßt sie sich ohne wesentliche Einbußen unter die Begriffe der Aufklärung und der Empfindsamkeit abbuchen. Daß einige aus der kleinen Gruppe von Literaten, die die Bewegung des Sturm und Drang bildeten, nun die gesamte Palette aufgeklärt-empfindsamer Themen und Formen für sich entdeckten, wie sie von der Literatur um sie herum kultiviert worden war, kann wohl kaum dazu herhalten, eine neue Epoche auszurufen. Die Kulturpolitik des Weimarer Hofs um die Herzoginmutter Anna Amalia und den Herzog Carl August, die Schaffung eines „Musenhofs“ durch die Berufung großer Geister wie Wieland, Goethe und Herder war ja ein typisches Projekt aufgeklärter Fürstenpolitik. Goethe und Herder arbeiteten, nachdem sie in Weimar angekommen waren, sofort eng mit Wieland zusammen, unbeschadet der Kontroversen und Irritationen, die zuvor ihr Verhältnis zu Wieland bestimmten; es stellte sich heraus, daß es zwischen ihnen keinen grundsätzlichen Dissens gab. Und wenn man ein Hauptwerk der „Weimarer Frühklassik“ wie Goethes „Iphigenie auf Tauris“ (1787), eine Arbeit, die Wieland intensiv begleitet und begeistert begrüßt hat, oder Herders „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ (1784–1791) und „Briefe zur Beförderung der Humanität“ (1793–1797) zur Hand nimmt, wird man unschwer feststellen, daß in Weimar damals nichts anderes als die Sache der Aufklärung und der Empfindsamkeit verhandelt wird.41
2.4.2 Das „klassische Jahrzehnt“
Von der „Frühklassik“ zur „Hochklassik“
Die nächste epochale Stufe in der Entwicklung der deutschen Literatur soll nun mit dem Übergang von der „Weimarer Frühklassik“ zur „Hochklassik“, zum „klassischen Jahrzehnt“ der Jahre 1794 bis 1805 erreicht sein. In diesem Jahrzehnt soll der Scheitelpunkt des Entwicklungsbogens zu sehen sein, der Gipfel der deutschen
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Literaturgeschichte. Hier soll sich die Epiphanie des deutschen Wesens vollendet haben, in einer Literatur, die den Deutschen ein- für allemal ihre Identität offenbart, sie auf unüberbietbare, eben klassische Weise mit sich selbst bekannt gemacht und zum Bewußtsein ihrer selbst gebracht hätte. Drei Ereignisse sollen den Aufstieg zu dieser höchsten Stufe markieren: 1. Goethes italienische Reise von 1786 bis 1788, seine erste authentische Begegnung mit dem „klassischen Boden“ Italiens, wie sie ihm eine vertiefte Annäherung an den Geist und die Formkultur der Antike ermöglicht habe, 2. die Französische Revolution seit 1788/89, und 3. der Anschluß Schillers an Goethe im Jahr 1794.42
Werke des „klassischen Jahrzehnts“
Als Kernbereich der Hochklassik wird das „klassische Jahrzehnt“ angesehen; das soll die Zeit gewesen sein, in der die „göttlichen Dioskuren“ Goethe und Schiller in enger Zusammenarbeit den Deutschen die klassischsten ihrer klassischen Werke geschenkt hätten. Im Gespräch mit Schiller schließt Goethe 1795/96 seinen Roman „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ ab, das Muster des deutschen Entwicklungs- und Bildungsromans, und fördert seinen „Faust“, die „Bibel der Deutschen“ (Heine), bis dahin, daß er 1808 „der Tragödie ersten Teil“ veröffentlichen kann. Schiller schreibt seine großen philosophisch-ästhetischen Abhandlungen „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ (1795) und „Über naive und sentimentalische Dichtung“ (1795/96) und entwickelt anschließend von ihnen aus das Modell seiner klassischen Dramen, von „Wallenstein“ (1800) über „Maria Stuart“ (1801), „Die Jungfrau von Orleans“ (1802) und „Die Braut von Messina“ (1803) bis zu „Wilhelm Tell“ (1804). Gemeinsam arbeiten Goethe und Schiller an ihren Balladen, an theoretischen Entwürfen wie dem Aufsatz „Über epische und dramatische Dichtung“ (1797), an den satirisch-kulturkritischen Epigrammen der „Xenien“ (1797) und an literarischen Zeitschriften, mit denen sie den Deutschen ihr klassisches Kunstprogramm nahebringen.
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Das Konstrukt einer „Deutschen Klassik“
Die Konstruktion des „klassischen Jahrzehnts“ ist wahrhaft abenteuerlich und geht in einer Weise an den historischen Realitäten vorbei, die sich an Verdrehtheit kaum überbieten läßt. In einer doppelten Konfrontation also soll der deutsche Volksgeist hier zu sich selbst gekommen sein: in der authentischen Begegnung mit der altgriechischen Kunst und Kultur und in der kritischen Auseinandersetzung mit der Französischen Revolution. Und das Ergebnis soll nun eben eine durch und durch deutsche Literatur gewesen sein, eine Literatur, die in der Gegenwendung gegen die oberflächlich aufgeklärte, rationalistische Kultur der Franzosen und den politischen Aktionismus ihrer Revolutionäre den deutschen Tiefsinn, den Sinn für das Irrationale zur Geltung brächte, um neuerlich zu den ewigen Fragen der Menschheit vorzudringen und die Prinzipien der Humanität in einer Vollendung der Formen zu gestalten, wie sie zuvor allenfalls den Griechen gegeben gewesen wäre. Die Deutschen sollen so als einzige unter den modernen Nationen dahin gelangt sein, den Geist des Griechentums, seine Humanitäts- und Formkultur nicht nur nachzuahmen, sondern bis in ihre tiefsten Regungen hinein zu erfassen und unter den Bedingungen der Moderne neuerlich produktiv zu machen, sie in die moderne Welt hinein wiederaufleben zu lassen – die Deutschen allein, weil der deutsche Geist, wie man hier glaubt, dem der Griechen wesensverwandt sei.
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